»Denn obgleich wir eine kleine Nation, in sehr enge Grenzen eingeschlossen und an Macht schwach und oft andern Reichen unterworfen waren, so finden sich doch viele Tugendthaten, die in unserm Lande vollbracht und der schriftlichen Aufzeichnung würdig sind.«
Moses von Choren.
Geschichte Gross-Armeniens, Cap. II.
Während sich die alte armenische Litteratur, besonders die historische, bei den Orientalisten des Abendlandes einer wohl verdienten Würdigung erfreut, ist das zeitgenössische armenische Schrifttum in Europa völlig unbekannt, obgleich dasselbe nicht wenig des Gediegenen und der Beachtung Werten enthält.
In der Absicht, die Kenntnis der neueren armenischen Litteratur wenigstens einigermassen zu verbreiten, unternehmen wir die Herausgabe dieser Bibliothek in der Sprache der Nation, die immer dem Aufstreben junger Litteraturen Interesse gewidmet und unter deren intellektuellem Einflüsse sich das neuere armenische Schrifttum zu gutem Teil entwickelt hat.
A. J.
»Guten Abend, Nachbar!«
»Glück bringe uns unsre Begegnung, Herr Mekr! wohin gehst du denn?«
»Ich gehe nirgendshin; in der Stube ist es heiss wie im Backofen! Sitzt man ein Bissel, erschlafft man ganz und gar; legt man sich, da kommt der Schlaf nicht, man schwitzt und dann diese Hundstagsfliegen, die sind unerträglich. Sie überfallen einen schwarmweise und beissen so, dass einem Hören und Sehen vergeht. Da dachte ich bei mir, »ich will etwas zum Nachbar gehen und mit ihm plaudern.« Ach, Bruder, dieser Sommer ist mir schon überdrüssig geworden, es wäre Zeit, dass der Herbst käme, um zu wissen, ob . . . Was giebt es denn neues?«
»Ich habe nichts gehört . . . Nun, giebt es denn etwas? . . .«
»Nein, ich habe nur so gefragt, ich dachte, vielleicht weisst du etwas, denn du liest ja die Zeitungen. Haben sich die Franzosen und Deutschen wieder mit einander ausgesöhnt?«
»Haha, schon längst. Jetzt zerbricht sich der Franzose den Kopf, wie er die Strafe für seinen Streit bezahlen soll.«
»Ja? Ach, das ist dem Kerl ganz recht! Mag er ein anderes Mal nicht die Hosen ausziehen, bevor er nicht ans Wasser kommt . . . Nun, hast du Briefe von deinem Vater und deinen Brüdern bekommen? Wie geht es ihnen?«
»Ich habe schon lange keinen Brief gehabt.«
»Ach, was wollte ich denn sagen! Für wen haben sie denn heute die Sterbeglocke geläutet?«
»Hat man denn die Sterbeglocke geläutet? Ich habe wirklich nichts gehört.«
»Ja, ja, sie haben geläutet, und nicht ein Mal, sondern zwei, drei Mal. An den Schlägen des Glöckners hörte man, dass der Verstorbene ein Reicher sein muss. Er schlug deutlich, kräftig und langsam an, doch ich habe nicht aufgepasst, ob das Läuten für eine Frau oder einen Mann war. Du weisst doch, dass man nach hiesiger Sitte einem verstorbenen Manne zuerst mit der grossen und dann mit der kleinen Glocke läutet, einer Frau aber zuerst mit der kleinen und dann mit der grossen. Als meine Alte hinausging, sagte sie, der Verstorbene wäre ein Mann. Aber sie hatten schon mehrere Male angeschlagen und so konnten wir nicht erkennen, ob eine Frau oder ein Mann gestorben ist. Übrigens mag es sein, wer es will, Gott mache ihn selig! Ich zerbreche mir fast den Kopf darüber und kann es nicht erfahren. Und am Fenster ist auch niemand vorüber gegangen, den ich fragen konnte. Ich habe schon an einen gedacht, aber der konnte nicht so schwer krank sein! Ich glaube, meine Alte hat dasselbe gesagt. Ach, mag es sein, wer es will, Gott habe ihn selig! . . . Ja, mit unserer Stadt geht es bergab! Wenn in früheren Jahren monatlich ein Todesfall vorkam, da geriet die ganze Stadt in Aufregung. Wenn nur ein Kind starb, fielen wir gleich über die Eltern her und machten ihnen Vorwürfe, dass sie den armen Schlucker nicht gut gepflegt hätten, dass sie ihn zu sehr angestrengt und dadurch krank gemacht hätten, dass sie ihn einem bösen Blicke ausgesetzt und vor Hexen nicht bewahrt hätten. Ach, was haben wir nicht alles noch gemacht und gethan, um die andern Eltern zur Vorsicht anzutreiben. Und wirklich, in jenen Zeiten starben die Leute selten. Und jetzt, ach, jetzt ist es aus mit dem Liede. Jetzt giebt es an jedem Tage zwei Verstorbene, geschweige denn in einer Woche. Der Verstand reicht nicht hin, um das zu verstehen. Kommt es vielleicht davon, dass jetzt die Menschen die alten Sitten der Väter verwerfen, oder sind die Ärzte ungeschickter, oder hat sich die Welt umgedreht, oder hat die Erde und das Wasser nicht mehr die frühere Kraft! . . . Ja, Bruder, das ist doch keine Lüge. In den ersten Jahren nach unserer Hierherkunft aus der Krim1, erzählten unsere alten Leute (ich bin ja auch nicht mehr sehr jung; wenn es Gott zulässt, vollende ich in der nächsten Fastenzeit mein 79. Lebensjahr), wir haben es sogar mit eigenen Augen gesehen! Ja, Gott sei mir gnädig! solche starke Fröste, solche Schneegestöber und so tiefen Schnee gab es in früheren Jahren nicht. Die letzte Kälte war immer in der Faschingszeit; da fuhren die jungen Leute auf Fischerschlitten durch die Strassen, der Frost zwickte etwas in die Backen und die Geschichte war zu Ende. Sobald die grossen Fasten kamen, fing der Schnee zu schmelzen an und das Wetter wurde gelinde. Es war damals keine Seltenheit, dass am Palmensonntage die Weiden schon Blätter hatten. Suche das jetzt! Jetzt schlagen die Bäume kaum in der Mitte des Maimondes aus.
»Auch die Früchte sind jetzt nicht mehr dieselben wie früher . . . giebt es denn überhaupt noch Gärten in der Stadt? Manche sind bis in die Wurzel vertrocknet und zu Grunde gegangen, die haben die Würmer zerstört und jene hat der Frost gefressen . . . Auch das Gras ist nicht mehr dasselbe wie früher. Wo sind jetzt die duftigen Kräuter und Blumen von ehemals! In unserer alten guten Zeit war es Sitte, dass man sich im Maimonde ins frische Gras legte und das befreite einen von allen Krankheiten und Geschwüren. Jetzt giebt es jenes Gras nicht mehr und auch nicht jene Menschen, die sich ins Gras legten. Ach, weisst du, Junge, mit den Armeniern ist es aus! Doch, was wollte ich denn sagen! Ja, ich glaube, ich habe gehört, dass ihr einen Obstgarten anlegen wollet. Das ist eine gute Absicht, Gott gebe das Gedeihen. Unsere Vorfahren sagten, der Herrgott habe die Gärten sehr gern. Ja, was Gärten und Saaten anbetrifft, da ist unser Herrgott sehr aufmerksam, er giebt ihnen immer reichlich Wasser und Wärme. Gebe er, dass auch in deinem Garten die Frucht kein Ende nehme! Es ist eine gute Sache, so am Hofe einen Obstgarten zu haben . . . Aber weisst du, pflanze in deinem Hofe keine Weiden. Mag es wahr sein oder nicht, aber von unsern Vätern und Grossvätern habe ich gehört, dass, sobald die Weide so dick wird wie der Hals dessen, der sie gepflanzt hat, da wirft den eine Krankheit nieder und er stirbt. Ja, ja, das hat man schon oft bemerkt.
»Ich habe auch noch gehört, dass Euer Wohlgeboren Geflügel gern habet! Das ist auch nicht schlecht, doch nimm mirs nicht übel, ich will dir ja keine Lehre geben; hüte dich Tauben zu ziehen! Deine Kinder (Gott bewahre sie davor!) würden ganz ungezogen werden, denn siehst du, den ganzen Tag würden sie den Tauben nachlaufen, sich auf der Strasse herumtreiben, sich mit Gassenbuben einlassen, Steine auf die Nachbardächer werfen und zuletzt die Lust zum Lernen verlieren. Allerdings weiss Euer Wohlgeboren das besser als ich, nun, ja! Sagt mir doch, wie ist es gekommen, dass ihr den Garten und das Geflügel beisammen haben wollt, ich glaube, die zwei Dinge vertragen sich nicht mit einander. Nun allerdings, das ist eure Sache. Das Vogelgeschlecht ist ein schrecklicher Feind der Saaten. Die Truthühner lieben nichts mehr als auf den Bäumen herum zu flattern und die Knospen abzuzwicken und die Gans – wo die hinmacht, da wächst drei Jahre hinter einander kein Grashalm. Übrigens mach's wie du denkst! Man muss entweder zum einen oder zum andern Lust haben. Meinst du denn, dass sich beides mit einander vertrüge?
»Ich glaube nicht. Wenn du den Hühnerstall zumachst und die Viecher einsperrst, da werden sie wieder alle lausig. Das weiss ich ganz genau. Die Gartenliebhaberei ist ganz hübsch. Als unsere Väter aus der Krim hierher kamen, da waren sie gründliche Freunde der Gärtnerei. Vom Basar wurde nur selten Gemüse oder Obst ins Haus genommen. Apfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Aprikosen, Stachelbeeren, Gurken, Petersilie, Radieschen, Melanganen, Kürbisse zum Dolma (eine Art Sauce), Zwiebeln, Knoblauch und verschiedene andere Sorten Gemüse, wie z. B. Bohnen, das kam alles aus eigener Wirtschaft. Ich erinnere mich noch wie heute, wie meine selige Mutter alle Wintervorräte aus der eigenen Wirtschaft bestritt. Wir hatten ein ganz hübsches Gärtchen und sie grub, säete, pflanzte und begoss alles mit eigener Hand. Auch das Gemüse und das Obst pflückte sie mit eigener Hand und salzte ganze Tonnen voll Gurken und Melanganen für den Winter ein. Und was für eine Menge Backobst, Zwiebeln, Knoblauch! In ihrer Vorratskammer und im Keller sah es wirklich wie in einem Viktualienladen aus. Auf dem Basar wurde nur selten etwas gekauft. Wir hatten eine Kuh, nur eine, aber wer hätte damals Milch, Sahne, Käse und Butter gekauft! Es gab alles in Hülle und Fülle. Es sind nun schon fünf und zwanzig Jahre, dass das alles aufgehört hat. Unsere jetzigen Weiber sitzen den ganzen lieben Tag am Fenster oder vor dem Thore und knaubern etwas oder beklatschen die Nachbarschaft.
»Obstgärten und Bäume sind aus unserer Stadt ganz verschwunden, aber dafür haben sich Krankheiten und Gebrechen, besonders unter den Kindern vermehrt. Ja, ja, das haben schon viele beobachtet, ja, ja! Früher gab es in unserer Stadt keine so grossen Häuser aus Stein und Ziegeln mit eisernen Dächern, aber es gab auch nicht so viel zerfallene Häuser und verlassene Höfe. Früher, wenn der Maimond kam, da verwandelte sich die ganze Stadt in einen grossen Blumenkorb, weit und breit war die Luft erfüllt vom Dufte der Rosen, Lilien, Nelken und Kornblumen. Tausend verschiedene Vogelarten nisteten auf den Bäumen, die Nachtigallen sangen und wenn du früh morgens aufstandst und in den Garten gingst, da wurde dir so wohl ums Herz, wie beim Betreten der Kirche. Ja, ja, guter Freund, das ist alles hin und kommt nicht mehr zurück. Das neue Geschlecht ist dem alten nicht gewogen, die Jungen haben nichts gutes gelernt und das alte vergessen. Aus der Ferne kamen verschiedene fremde Leute, ein ganz fremdes Gesindel kam wie von einem ungünstigen Winde hierher geweht; sie haben die Stadt vom Boden aus umgedreht, dass auch die Spur des alten verschwunden ist. Unser schönes, heimliches Nachitschewan von früher ist dahin. Ach, Bruder, du hättest unser Nachitschewan so vor fünfzig, sechzig Jahren sehen sollen! O damals sah es anders aus! Was ist jetzt davon geblieben? Die Menschen sind nicht mehr dieselben, auch die Häuser und das Leben ist anders geworden, auch das Wasser und die Erde, und wenn ich sage, dass auch das Wetter nicht mehr dasselbe ist, lüge ich wahrlich nicht!
»In früheren Zeiten gab es auch, glaube ich, weniger Arten von Krankheiten, ja es gab nicht so viel. Die Schwindsucht war eine Seltenheit; von Tausend starb einer daran. Und jetzt? Giebt es jetzt ein Haus, in dem nicht ein oder zwei Schwindsüchtige wären? In unseren Zeiten war von der Cholera gar nichts zu hören . . . Allerdings kam es vor, dass man manchmal Bauchweh bekam, aber dagegen gab es gute Mittel. Da ging man zum Quacksalber, kaufte für ein paar Groschen Galläpfel, zerstampfte sie im Mörser zu Pulver, schlug das durch ein Sieb, schüttete es in Wasser und wenn man zwei, drei Gläser davon getrunken hatte, da war auch das Bauchweh vorbei. Auch das Fieber kam vor, doch denke nicht, dass es so häufig vorkam, wie jetzt. Nein, sehr selten; die früheren Frauen hatten immer alle möglichen Arzneimittel in Bereitschaft. Von Chinin wusste man damals gar nichts. Ja, zu unseren Zeiten kurierten wir mit Wermut und bittern Mandeln und wir wussten, wie wirs eingeben sollten . . .
»Ach, du mein Himmel, das will mir nicht aus dem Kopfe! Für wen mag man wohl geläutet haben? Ach, ich Tölpel! Da war ja vor einer Weile der Ladenjunge vom Äpfelwakim bei uns; hätte ich ihn doch gefragt! Ach, wie ich zerstreut bin!
»Nun aber, ich habe dich gelangweilt! nimm mir's nicht übel!«
»Warum eilst du denn? Sitze noch etwas, wir wollen ein Bissel plaudern, du hast ja keine Kinder zu Hause!«
»Ja, Kinder habe ich allerdings nicht zu Hause, aber ich muss doch gehen, denn die Kühe sind schon längst von der Weide gekommen. Gewiss hat meine Alte schon gemolken und wartet, dass ich zum Thee komme.«
»Nein, nein, du bleibst hier; heute musst du bei uns Thee trinken.«
»Ach, ich würde schon bleiben, aber die Alte ist ja allein zu Hause.«
»Auch das lässt sich ändern; ich will gleich das Mädel zu deiner Frau schicken, damit sie zu uns kommt. Wir zwei können hier im Schatten Thee trinken und die Weiber mögen da in der Stube zusammen trinken; gut?«
»Es scheint so nicht schlecht zu sein, aber wozu sollen wir euch denn Umstände machen?«
»Was für Umstände? Wie machens denn Nachbarn anders? Weisst du denn nicht, dass ein guter Nachbar mehr taugt als ein Verwandter?«
»Ja, das ist beinahe so! Ja, lieber Sohn, in der alten, guten Zeit war es so, aber jetzt weiss man ja gar nicht mehr, was Nachbarschaft ist. Schau dich doch jetzt um in den Höfen, wo siehst du jetzt noch im Zwischenzaune ein kleines Thürchen, wie es früher überall war? Ja, früher brauchte einer nicht durch den Thorweg hinaus auf die Strasse zu gehen, wenn er den Nachbar besuchen wollte. Da war überall im Zwischenzaune ein Thürchen, das immer offen stand. In den neuen Häusern und Höfen macht man keine solche Thüren mehr, die alten verschlägt man mit Brettern oder verrammelt sie mit Steinen. Die Nachbarn wollen einander gar nicht einmal sehen, geschweige denn einander besuchen. Sie beobachten einander mit schiefen Blicken, spionieren, lachen einer den andern aus, stehlen einer dem andern Geflügel, werfen sich gegenseitig krepierte Hunde und Katzen in den Garten. Ja, ja, so leben heute die Nachbarn mit einander. Früher lebten die Nachbarn wie leibliche Brüder zusammen und auch ihre Weiber waren gute Freundinnen. Es ist doch nicht immer Sonnenschein, es kommen auch trübe Tage, und an solchen Tagen, wenn, was Gott verhüten mag, sich die Not einstellt, sieht man sich umsonst nach den Verwandten um. Ach, Bruder, was soll ich dir denn da noch viel sagen! Vom vielen Klagen thut mir schon der Mund weh. Und der Sprecher muss ja einen Zuhörer haben, mit einer Hand kann man doch nicht Beifall klatschen. Ach, lieber Himmel! weisst du, diese Sterbeglocke will mir nicht aus dem Sinn! Wer kann da heute gestorben sein! Ich zerbreche mir den Kopf und kann nicht dahinter kommen. Ach, halt, schau! Dort geht jemand vorüber! Das ist ja das Väterchen Mathes! Erkennst du ihn denn nicht? Ja, es ist der Küster von der Marienkirche! Ja, ja, das ist er. Weisst du, warte ein Weilchen, ich will mich bei ihm erkundigen.«
»Heda, Väterchen, heda, warte doch! Ich will dich um etwas fragen. Hast du nicht heute einem Verstorbenen geläutet?«
»Jawohl! und?«
»Für wen denn?«
»Nun, für Lasar Moltans Tochter, wusstest du denn das nicht?«
»Für Lasar Moltans Tochter? Für sie? Ach, höre auf! Für Kati (Käthchen)? Wirklich? Ach, du gerechter Himmel! Gott mache sie selig! Ach, gerechter Himmel, also wirklich für Kati! Ach, ach, das war ein wahres Kleinod und sie ist dahin! Sie konnte nicht mehr als sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein und ist gestorben! Ach, ach! Gott segne sie! Ach wie schade um sie, tausendmal schade! O, o, sie hat sich schnell aus dieser Welt fortgemacht! Noch vor uns ist sie in das Reich der Seligen eingezogen! Ach Herrje! Die Guten sind fort und die Schlechten sind geblieben! Also sie ist gestorben?«
»Väterchen Mekr, was schmerzt dich das so, sie war doch keine Verwandte von dir?«
»Ach, wenn sie auch keine Verwandte war, was liegt daran! Ich liebte sie mehr als eine Verwandte. Auch meine Frau liebte sie sehr. Ach, hättest du gesehen, was das für ein Mädel war! Wenn es auf der Welt etwas Vollkommenes gab, so war das Kati. Solch ein Mädel hat es nie auf der Welt gegeben und wird es auch nicht mehr geben . . . Ach, wenn ich nur erfahren könnte, wann sie sie begraben werden! Ja, wir müssen hingehen und eine Hand voll Erde auf ihren Sarg streuen, das ist eine heilige Pflicht.«
»Verzeiht mir, Väterchen Mekr, verzeiht, dass ich Euch unterbreche! Wollt Ihr den Thee mit Milch oder mit Sahne? Oder vielleicht mit Rum?«
»Ach, Bruder, kann man denn bei solcher Hitze mit Rum trinken?«
»Weisst du denn nicht, dass ein Keil den andern hinaustreibt?«
»Du willst sagen, dass der Rum die innere Hitze vertreibt und den Durst stillt. Nun, aber warum machst du dir denn Umstände?«
»Was für Umstände? Höre doch auf solches Zeug zu plauschen! Heda, Mädel, bringe eine Flasche Rum! Du weisst, den weissen Rum, den ich selbst trinke!«
»Aber lass doch sein! Das ist ja überflüssig. Bin ich denn hier bei dir zu einem Kränzchen geladen, dass du mir so teuren Rum vorsetzen willst? Der einfache wird auch genügen. Was man abends isst, das geht verloren. Hast du das nicht von unsern Alten gehört? Ach, ach, ich kann Kati gar nicht vergessen! Also dieses Mädel ist wirklich gestorben!«
»Lang' doch zu, Väterchen! Hier ist der Rum! . . . Was machst du denn da? nimm doch mehr! Du hast ja nur einen Tropfen hineingegossen! Mädel, gieb die Flasche her!«
»Halt, halt, mein Lieber, es ist genug, sage ich dir. Siehst du, da hast du das Glas übergegossen! Wenn ich mich berausche, wer wird mich da nach Hause führen? Nun, auf dein Wohl, möge dein Hauswesen gedeihen, möge dein neues Haus lange stehen und gebe Gott, dass du die Hochzeit deiner Enkel darin feierst! Donnerrrwetter, wie ist das stark! Ich habe dir gesagt, dass du zuviel eingegossen hast. Nun, auf dein Wohl, Gott gebe dir Glück, sei ein guter Nachbar!«
»Amen! ich danke dir zweimal! Wohl bekomms! Mädel, bringe noch ein Glas!«
»Ich muss dir die Geschichte der armen Kati erzählen. Aber mag sie unter uns bleiben. Sieh dich vor, dass du dich nicht verschappst. Höre mit einem Ohre und lass es zum andern wieder hinaus gehen! Ja, sei vorsichtig, lieber Nachbar. Sage niemand ein Wort davon. Ob es wahr ist oder eine Lüge, das bleibt sich gleich, ich will's dir erzählen, wie ich's selbst gehört habe. Die Wahrheit kennt nur Gott.
»Es war ein Kriegsjahr und durch unsere Stadt zogen scharenweise die Soldaten. Die einen blieben hier zwei, drei Tage, die andern, wenn sie gerade eilten, zogen durch ohne zu rasten. Katis Vater, der Lasar, war damals in Charkow auf dem Jahrmarkte, verkältete sich dort, wurde krank und musste einige Zeit dort bleiben. Als er endlich zurückkam, begann schon der Jahrmarkt in Rostow, er muss also wohl vier oder fünf Monate dort geblieben sein. Während dieser ganzen Zeit sah er seine Frau nicht. Merke dir das gut, damit du die ganze Sache verstehst! Damals lagen bei uns allen Soldaten in Einquartierung, nun und auch bei Lasar quartierten sie einen Offizier und drei Soldaten ein. Nach vier Tagen kommt der Befehl zum Ausmarsch, aber der Offizier wird plötzlich schwer krank. Sie holen Ärzte, schreiben Rezepte, bringen aus der Apotheke Arzeneien, aber es hilft alles nichts und mit dem Kranken wird es jeden Tag schlimmer. Sein Regiment marschiert aus, er aber bleibt zurück. Die Köchinnen und Kutscher fingen an so manches zu flüstern, aber wer vermag da in diesem Geklatsche die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden! Man erzählte sich, der Offizier liebäugele sich mit Lasars Frau, er nähere sich ihr, er habe sie umarmt, geküsst, dann sässen sie oft lange bei einander beim Thee und beim Mittagessen. Alles das war im Anfange Juni. Der Offizier blieb bis zum August und zog dann seinem Regimente nach. Man sagt, dass manche Leute gesehen hätten, wie Lasars Frau bei der Abreise des Offiziers am Fenster weinte. Wenn es nicht wahr ist, wird sie Gott für die Lüge bestrafen.
»Der Offizier zog fort und nach fünfzehn oder zwanzig Tagen kehrte Lasar heim. Er bemerkte bald, dass mit der Frau eine Veränderung vorgegangen sei; sie liess oft den Kopf hängen, hatte die Wangenröte verloren, war oft traurig und hatte oft verweinte Augen. Lasar erzählte davon den Nachbarn, den Verwandten und die warfen Funken des Argwohns in sein Herz. Er befragte die Dienstmagd und der Arme wurde dann noch argwöhnischer. »Wer hat dir denn dieses Seidenkleid gegeben?« fragte er einmal die Frau, »ich glaube, du hattest es früher nicht?« – »Ich habe es auf der Rostower Strasse gefunden,« antwortete sie. Da fragte er den Kutscher: »Hat die Frau etwas auf der Rostower Landstrasse gefunden?« – »Nein, nichts ähnliches ist passiert!« antwortete der Kutscher. »Und dieses Medaillon, von wem hast du das?« fragte er weiter. »Ich habe es in Sagatells Laden gekauft.« Lasar ging zu Sagatell, fragte nach, aber sie war gar nicht bei Sagatell gewesen. »Und die Photographie von diesem Offizier, woher hast du sie?« – Ich habe sie gefunden.« Lasar überzeugte sich endlich, dass dahinter etwas stecke, aber er lässt es dabei bewenden, er schweigt, aber schau, wie schlau er ist! Seit dem Tage seiner Heimkehr schläft er nicht ein einziges Mal mit seiner Frau. Heute sagt er, er wäre krank, morgen meint er, wäre Feiertag, dann wieder Fasttag u. s. w. Dabei lässt er seine Frau nicht aus den Augen und beobachtet sie.
»So verging der Sommer, der Herbst und er sieht, dass die Frau schwanger ist. Doch das Kind kommt nicht zur Welt und wäre es von ihm, da wäre es doch schon längst gekommen. Er schweigt auch jetzt. Endlich im Anfang März kommt seine Frau nieder und bringt ein hübsches blondes, blauäugiges Kind von strahlend weisser Gesichtsfarbe zur Welt. Es war klar, dass das ein Bastard war. Wenn du willst, da zähle die Monate und dann ist ja Lasar ziemlich bräunlich im Gesicht, hat rabenschwarze Haare und seine verstorbene Frau war auch nicht weisser. Man hatte da gar nichts zu bezweifeln. Lasar schwieg, liess kein Wort vernehmen, aber die Verwandten flüsterten im Stillen, dass das neugeborene Kind ein Bastard sei. Als die Hebamme Lasar fragte, was für einen Namen er dem Töchterchen geben wolle, sagte er: »Katherine soll es heissen; mag das Kind den Namen der Mutter tragen, damit die Erinnerung an sie bleibe, wenn sie sterben sollte.« – »Was ist das für ein Gerede?« sagte die Hebamme erschrocken. »Warum soll die Arme sterben?«
»Das steht bei Gott!« antwortete Lasar. Man trug das Kind in die Kirche und die Pfaffen tauften es bei Kerzenschein, unter lautem Beten und Singen. Nach neun Tagen steht die Wöchnerin gesund und munter auf, aber Mann und Frau sprechen kein Wort zu einander. Jedes hat etwas im Herzen. Schweigend sitzen sie zusammen, schweigend essen sie und legen sich schlafen, aber nicht zusammen und so vergeht noch ein Monat.
»Einmal fuhr Lasar früh morgens nach Rostow und brachte von dort eine Dienstmagd mit, die ein zwei Monate altes Kind hatte. Am Tage ihrer Ankunft wurde Lasars Frau nach dem Mittagessen plötzlich krank. Sie fing an zu schreien: »Ach, das Herz brennt mir, helft, holt einen Arzt!« Lasar antwortete: »Das wird schon vorüber gehen, wahrscheinlich hast du zuviel Muttermilch und die ist dir in den Kopf gestiegen. Lege dich nieder, es wird schon vorüber gehen!« An demselben Tage schickte er seinen Kutscher in die Dansche Kohlengrube um dort Kohlen zu kaufen, da sie dort billiger wären. Als sich seine Frau schon zwei Stunden gequält hatte, ging Lasar selbst aus, aber anstatt einen Arzt zu bringen, brachte er den Priester, damit er seine Frau mit den heiligen Sterbesakramenten versehe. Bald darauf starb sie auch.
»Lasar nahm nun das Kind und übergab es der neuen Dienstmagd mit den Worten: »Verrichte du keine sonstige Hausarbeit, sondern säuge mein Kind!«
»Dann eilte er zur Leichenwäscherin, bestellte beim Tischler einen Sarg und erst dann liess er die Verwandten holen. Als sich die Verwandten einfanden, lag die Verstorbene schon auf dem Tische und an den vier Enden des Tisches brannten vier Kerzen. Der Vater, die Mutter, die Verwandten und Freunde fingen an Verdacht zu schöpfen, aber sie schwiegen, bissen sich in die Lippen und wagten nichts zu sagen. Abends, als der Sarg schon fertig war, kamen die Pfaffen und Sänger und man trug die Todte in die Kirche. Am andern Tage, früh um sieben Uhr, wurde die Lithurgie abgesungen und die Arme, dieses wie ein Rettig kräftige Weib, der Erde übergeben. Während des Begräbnisses war in Lasars Augen nicht eine Thräne zu sehen, nicht ein Seufzer entrang sich seiner Brust, er schwieg wie ein Stein.
»Als er nach Hause zurückgekehrt war, umarmte er die arme Waise, küsste sie und sagte: »Die Sünderin hat ihre Strafe gefunden; du Würmchen bist unschuldig, du sollst leben und mag Gott deine Tage verlängern! Alles, was ich habe, gehört dir, ja, auch das, was ich noch erwerben will. Ich habe im Leben kein Glück gesehen, magst du es also wenigstens sehen. Wenn du auch nicht mir gehörst, aber doch bist du ein Menschenkind! Zehn Jahre habe ich mit deiner Mutter mein Brod geteilt und Gott hat uns kein Kind gegeben. Schon wollte ich ein Pflegekind annehmen und siehe, da hat Gott dich mir geschickt. Gott mache deine Mutter selig!« Die Leute sagten, er hätte dabei viel, viel geweint, aber ob es wahr ist, weiss ich nicht. Auch das, was ich dir eben erzählt habe, habe ich nur von den Leuten gehört.
»Lasar hatte eine ferne Verwandte, eine Wittwe. Diese lies er sogleich holen, übergab ihr sein Haus, die Dienerschaft, Pferde und Wagen, auch die Amme mit dem Kinde, dann händigte er ihr noch eine bedeutende Geldsumme ein und sagte: »Hüte das Haus, denn sieben Jahre lang wirst du mich nicht sehen!« Dann verschwand er.
»Mit Gottes Hülfe wuchs das Kind heran und wurde mit jedem Tage hübscher. Jeder, der es sah, war entzückt, denn es war ein wahres Bild. Seine goldenen Locken hingen wie Ringe auf das Gesichtchen und das Hälschen herab, die Äuglein glänzten wie Türkissteine, die Brauen waren wie mit der Feder gezeichnet, das Gesichtchen war frisch wie eine Rose und auf den Wangen hatte es kleine Grübchen. Was endlich den Charakter anbetrifft, nun wenn ich den mit dem der Engel vergleiche, da habe ich nicht Unrecht. So war sie, als sie vier Jahre alt war.
»Sobald sie einen Bettler, einen armen Wanderer oder Kinder in zerrissenen Kleidern erblickte, gab sie alles her, was sie bei sich hatte, oder in den Schränken fand. Oft versammelte sie eine ganze Schar Bettler um sich, liess Thee kochen, schänkte ihn selbst jedem ein und entliess sie dann. Das letzte Stück Brod nahm sie sich vom Munde und teilte es unter die armen Gassenkinder aus. »Esst, ihr Brüderchen und Schwesterchen!« sagte sie immer, »ich habe zu Hause noch genug, aber ihr habet nichts!« Besonders wenn sie erfuhr, dass jemand krank sei, da liess sie ihrer Pflegerin, der Wittwe, keine Ruhe und sagte immer: »Mama, gehen wir den Kranken besuchen, vielleicht braucht der Arme einen Arzt und Medizin!« Fast gewaltsam schleppte sie da die Alte ins Haus des Kranken und gab ihm alles, was er brauchte. Den Doktor liess sie in ihrem Wagen holen, bestellte Arzenei in der Apotheke, schickte dem Kranken Thee und Zucker. Was soll ich dir noch mehr von ihr erzählen? Die Geschichte dieses Mädchens nimmt sich fast wie ein Märchen aus.
»Ach, noch eins! Das hätte ich beinahe vergessen! Ja, weisst du, einmal, es war im Märzmonate, da kehrte meine Alte aus der St. Georgskirche heim. Der Tag war trübe und seit dem frühen Morgen sprühte ein feiner Regen. Der Fusssteg war mit Kot bedeckt und als meine Frau an Lasars Haus vorüber kam, da glitt sie aus und plumps! lag sie da! Mit der Nase schlug sie auf einen Stein, so dass das Blut stromweise herausquoll. Sie hatte sich den Fuss verrenkt, fiel in Ohnmacht und lag nun besinnungslos da. Und weisst du, wer sie zuerst bemerkte? Kati! ja, Kati und niemand anders! Das Mädel erblickt sie aus dem Fenster, springt herunter . . . Es war ein Glück, dass das Fenster nicht hoch war, denn sonst hätte sie sich Schaden thun können! So viel es ihr die Kräfte erlaubten, richtete sie meine Frau auf, wischte ihr das Blut aus dem Gesichte und rief ihre Dienstboten zu Hülfe. Bald versammelte sich ein Haufen Volk um sie her, sie liess meine Frau aufheben und in ihr Haus tragen. Dort zogen sie sie aus und wuschen sie vom Blute und Kote rein, schickten dann nach dem Chirurgen, der ihr den Fuss einrenkte und einen Verband umlegte und erst als das alles schon geschehen war, liessen sie mich holen. Ich kam hingelaufen und was sah ich! Meine Frau lag im Bette und atmete kaum. Sie nach Hause zu tragen, war unmöglich und deshalb bat ich, dass sie wenigstens eine Nacht dort bleiben könne, aber was sagst du dazu? Anderthalb Monate blieb meine Frau bei Kati und ich besuchte sie jeden Tag.
»Alles, was ich dir jetzt eben erzählt habe, habe ich entweder selbst gesehen oder gehört und wenn ich dir sage, dass ein Kind dem leiblichen Vater nicht das thut, was Kati gethan, da lüge ich gewiss nicht. Ach, himmlischer Vater, gieb ihr die Seligkeit, nimm dieses unschuldige Kind unter die Engel auf! Ja, gab es denn jemand in unserer Stadt, dem Kati nicht gutes gethan oder ein freundliches Wort gesagt hätte?
»Als sieben Jahre um waren, kam der verschwundene Lasar wieder heim. Er kam aus Sibirien mit drei schwer beladenen Wagen.
»Man erzählte sich, er hätte damals für mehr als eine Million Waaren und Geld mitgebracht. Als er sein Töchterchen erblickte, wollte er seinen Augen nicht trauen, so schön war sie. Da gab es Freude und Jubel und Lasar feierte ein Kränzchen nach dem andern, gab Bälle und Schmausereien, vierzig Tage und vierzig Nächte lang.
»Als die vierzig Tage um waren, umarmte er Kati und sagte: »So kannst du nicht bleiben, willst du etwas lernen?« – »Ja, Papa, das will ich gern,« antwortete sie. »Und wo willst du, dass ich dich unterbringe?« fragte Lasar weiter. – »Wohin du willst, ich werde nicht »nein« sagen,« erwiderte das arme Mädel. – »Nun gut, da will ich mit dir nach Odessa fahren und dich dort in der Pensionsanstalt unterbringen. Dort werden die Töchter von Generalen, Fürsten und Gutsbesitzern erzogen. Magst du mit ihnen lernen, nur nimm dich in Acht, dass du nicht zurückbleibst! Ja, ja, in fünf, sechs Jahren musst du mir zwölf Sprachen erlernen, Fortepianspielen, Musik, Polken, Quadrillen, Stickereien, ja, alles musst du lernen!« – »Ach, Papa, ich will alles lernen!« »Nun gut!« sagte Lasar, »ich gebe dir eine Woche Zeit zum Nachdenken. Wenn du bei deinem Worte bleibst, fahre ich mit dir nach Odessa.« Fast wäre der Ärmsten das Herz geplatzt vor Freude, dass sie schreiben und lesen lernen würde. Nach einer Woche sah der Vater, dass das Mädel bei seinem Worte beharrte. Er lässt seinen Wagen laden, die Koffer daran binden, bekreuzt sich, setzt das Mädel auf den Wagen und fährt mit ihr nach Odessa. Dort übergiebt er sie der Vorsteherin der Pensionsanstalt, händigt der das nötige Geld ein und kehrt zurück. Einen oder zwei Monate blieb er hier in Nachitschewan, übergab dann das Haus und die Wirtschaft wieder der Wittwe und verschwand von neuem.
»Im Laufe von acht Jahren hörte man weder von Lasar noch von Kati etwas und ob sie lebten oder gestorben wären, war niemand bekannt.
»Endlich vor zwei Jahren kam eines Tages ein Russe in Lasars Haus und sagte der alten Wittwe, dass sie Lasar grüssen lasse und bald zurückkommen würde. Deshalb wünsche er, dass das Haus in Ordnung gebracht würde. Ich werde dir dabei helfen! schloss der Russe. Am andern Tage ging dieser auf den Basar, brachte Leute mit sich und sie machten sich ans Reinigen und Ausbessern. Die einen fegten den Hof, die andern reinigten den Stall und die Scheuer, tünchten das Haus auswendig, malten es im Innern, besserten aus, wo etwas auszubessern war und setzten neue Scheiben in die Fenster ein. Aus Rostow brachten sie ganze Fuhren neuer Möbel, dann einen neuen Flügel und nach zwei Wochen war das Haus so ausgeschmückt, dass ein Minister hätte drin wohnen mögen.
»An einem Sonntage nahm ich meine Frau und ging mit ihr in den Klostergarten von Surp Chatsch (Heiliges Kreuz). Als wir abends nach Hause zurückkehrten, sagte uns unser Nachbar: »Väterchen Mekr, willst du eine Neuigkeit wissen?« – »Ja, gewiss, was giebt es denn?« »Nun, Lasar ist aus Odessa angekommen und das Mädel mit ihm,« sagte er. »Wirklich?« sagte ich. »Ja,« sagte er, »alle wissen es ja schon.« – »Es ist schade,« sagte ich, »dass es schon finster ist, und dann werden sie von der Reise müde sein. Sonst würde ich gleich hingehen und sie bewillkommnen.
»In jener Nacht konnte ich bis zur Morgenglocke kein Auge schliessen und beim ersten Glockenklange stand ich auf, ging in die Kirche und verrichtete dort mein Morgengebet. Als ich nach Hause kam, war schon der Thee fertig und meine Frau wartete auf mich. »Nun, mach' dich bereit!« sagte ich, »deinen Thee will ich gar nicht, wir wollen zu Lasar gehen!« sagte ich vor Ungeduld fast zitternd, denn ich liebte sehr, sehr diese Kati. Gott gebe ihr die Seligkeit!
»Meine Frau zog sich schnell an und wir gingen hin zu Lasar, um ihn zu begrüssen. Als wir in das Haus traten – Donnerwetter, was sahen wir da! – anstatt der kleinen hübschen Kati erblickten wir eine vornehme Dame. Donnerwetter! Ich bin fast achtzig Jahre alt, bin weit in der Welt herumgekommen, habe viel Menschen gesehen, war auf vielen Kränzchen, aber so was Wunderschönes habe ich nie gesehen. Ja, man musste sie mit eigenen Augen sehen, denn mit Worten lässt sie sich gar nicht beschreiben. Selbst im Schlosse eines Königs wäre sie eine Zierde gewesen! Was soll ich dir noch mehr sagen? An Wuchs übertraf sie um einen Kopf alle Frauen unserer Stadt und ihr Gesicht war so weiss, dass der erste Schnee schmutzig dabei war. Auf ihren Wangen prangten Rosen und dann diese Kleidung! Sammet, Seide und dann dieses teure Zeug, ach, wie heisst es denn! alles war auf ihr. In den Ohren hatte sie Brillanten so gross wie eine Nuss, um den Hals, in den Haaren und auf den Fingern . . . und so ein Mädel ist gestorben! Der Verstand bleibt mir stille stehen. Giebt es da noch eine Gerechtigkeit Gottes? Ach, Kati, arme Kati!
»Meine Frau und ich, wir waren wie versteinert und konnten keinen Schritt weiter thuen, die Zungen waren uns wie gelähmt. Aber siehe, da kam uns wieder Kati zu Hülfe, Gott mache sie selig! Sie sprang sogleich von ihrem Stuhle auf, umarmte meine Frau und küsste sie und sagte: »Also du hast meiner nicht vergessen?« Auch zu mir kam sie und küsste mir die Hand (mag sie Gott in jener Welt für diese Liebe und Ehrfurcht belohnen). Sie bat uns näher, bot uns Stühle an, setzte uns Thee vor und wir fingen an einander alte und neue Dinge zu erzählen. Wir sprachen und sie sprach auch und erzählte alles, was sie erlebt hatte, was sie gelernt hatte, eins verstanden wir, das andere nicht, aber wir hörten ihr doch zu, denn die Ärmste hatte eine so süsse Stimme wie eine Nachtigall. Es war uns genug ihre Stimme zu hören, wozu brauchten wir noch die Worte verstehen. So sassen wir anderthalb Stunden bei ihr und als wir aufstanden, umarmte sie wieder meine Alte und bat sie wie eine leibliche Tochter doch recht oft wiederzukommen; auch mich lud sie ein. Dann schickte sie jeden Tag ihren Bedienten nach uns oder wenn schlechtes Wetter war, schickte sie gar ihren Wagen nach uns. Und nicht nur für uns war sie so freundlich und sanft, nein, jedem gegenüber war sie menschlich und gut.
»Und wieder versammelte sie die Armen um sich herum und setzte sich zu ihnen und tränkte und speiste sie. Sie half den Kranken, den armen Wanderern, aber nicht so wie eine reiche, vornehme Dame, die ihnen Geld hinwirft. Gott bewahre! Sie verkehrte mit ihnen wie mit Verwandten, wie mit Brüdern. Sie sagte nie: »Heda, du Mann oder du Weib!« Nein solche Worte kamen nie aus ihrem Munde. »Brüderchen, Väterchen, mein Schatz, mein Schwesterchen!« mit solchen Worten begrüsste und verabschiedete sie die Armen.
»So verging ein Jahr. Einmal gaben sie bei Sakall ein Kränzchen und die Ärmste ohne zu wissen, welches Unheil ihr dort begegnen sollte, ging ganz harmlos hin.
»Ich muss dir hier sagen, dass bis zur Ankunft Katis aus Odessa, die zweitjüngste Tochter von Kurbaschi die schönste und feinste in der ganzen Stadt war. So wie nur Kati nach Nachitschewan gekommen war und sich unter den Leuten sehen liess, verlor Kurbaschis Tochter allen Wert, niemand sprach mehr von ihr und sie war ganz vergessen. Da wurde Fräulein Kurbaschi eifersüchtig, ihr Herz flammte auf und schaue nur zu, was für teuflische Dinge sie sich ausdachte!
»Auf dem Balle kommt sie zu Kati, thut wie eine Freundin mit ihr und fängt an mit ihr in gebrochenem russisch zu sprechen. Das sollte heissen: »Sieh, sieh, wenn ich auch nicht in Odessa auf der Pension war, so bin ich doch nicht weniger gebildet als du!« – »Warum sprichst du zu mir russisch?« fragte sie Kati, »wir sind doch beide Armenierinnen und verstehen armenisch. Ziehmt es sich denn für eine Armenierin mit ihrer Landsmännin in einer fremden Sprache zu sprechen?« Fräulein Kurbaschi hatte das eben gewollt und sagte lächelnd: »Ich bin allerdings eine Armenierin, aber du bist keine.« Kati entgegnete hierauf: »Und was bin ich denn, wenn ich keine Armenierin bin?« – »Du bist eine Russin,« antwortete Kurbaschis Tochter. »Entschuldige!« versetzte Kati harmlos, »ich war keine Russin und will keine sein. Wenn ich eine Russin sein wollte, da wäre ich in Odessa geblieben!« Das Teufelsmädel, die Kurbaschi, sagte ihr hierauf: »Nein, nein, du bist keine Armenierin, du bist eine Russin!« Kati argwöhnte auch jetzt noch nichts und aufrichtig sagte sie: »Allerdings bin ich in einer russischen Schule erzogen worden, aber ich habe weder unsere heilige Religion noch unsere Muttersprache vergessen. Auch in Odessa giebt es eine armenische Kirche und jeden Sonntag besuchte ich den Gottesdienst. Auch giebt es dort einen armenischen Priester, und dieser kam wöchentlich dreimal zu mir und unterrichtete mich in unserem heiligen Glauben. Und damit ich unsere Sprache nicht vergässe, liess mir mein Vater von einem armenischen Lehrer Stunden geben: Sieben Jahre lang hat er mir Unterricht in der armenischen Sprache erteilt. Welches Recht hast du also, mir zu sagen, ich sei keine Armenierin, sondern eine Russin?« Die freche, gewissenlose, mit Hundemilch gesäugte Kurbaschi bemerkte nun, dass Kati nichts wisse, dass sie unschuldig wie ein Engel sei und ihre Andeutungen nicht verstehe. Sie wandte sich wieder zu ihr und sagte ihr frech ins Gesicht schauend: »Wem willst du Vorreden, du seiest eine Armenierin? Du bist im Kriegsjahre auf die Welt gekommen, nicht Lasar ist dein Vater, sondern ein russischer Offizier, du bist ein uneheliches Kind! Was prahlst du dich so und thust so unschuldig als ob du nichts wüsstest? Weisst du denn nicht, dass du ein Bastard bist? Du bist nicht wie wir in gesetzlicher Ehe geboren, nein, deine Mutter hat mit einem Russen gelebt und da bist du auf die Welt gekommen.«
»Kati schaute sie stumm an und verstand sie gar nicht. Sie war so unschuldig und naiv, dass sie die Bedeutung des Wortes »Bastard« gar nicht kannte. Alle diese nichtswürdigen Reden warf ihr die Kurbaschi aus Eifersucht ins Gesicht und es wäre gar nicht schlimm geworden, wenn sich nicht noch eine Dritte hierein gemischt hätte, denn die arme Kati verstand kein Sterbenswort von der ganzen Anspielung. Aber siehe da! Auf dem Balle befand sich eine dumme, erzdumme Plaudertasche, Babuks Tochter. Und die war sogleich bei der Hand, um sich hineinzumengen. Sie nahm Kati bei Seite und erzählte ihr haarklein die ganze Geschichte, ja, den ganzen Sachverhalt deckte sie ihr auf. Da gingen der seligen Kati die Augen auf. »Ach, Mama, Mama!« schrie sie und fiel in Ohnmacht. Man brachte sofort kaltes Wasser und Essig, aber es half nichts. Da kam endlich der Doktor und mit seiner Hülfe kam sie allmälig wieder zum Bewusstsein. Sie wurde nun sogleich nach Hause gefahren, aber in halbtotem Zustande. Der Ball war natürlich zu Ende, alle gingen plaudernd und flüsternd nach Hause.
»Das war es, was Kati krank machte. Mit jedem Tage wurde sie magerer, ja, sie zerrann und schmolz wie eine Kerze. Man schickte Depeschen nach Nowotscherkask, Charkow, Taganrog und Odessa, liess die besten Arzte kommen, aber keiner konnte ein Mittel gegen ihr Leiden finden. Seit dem Tage jenes Anfalles verlor die Arme die Sprache, sie sprach kein einziges Wort mehr und nur durch Kopfbewegungen gab sie zu verstehen, ob sie »ja« oder »nein« sagen wolle. Sechs Monate lang hat sie sich so martern müssen und siehe da! heute ist ihre unschuldige Seele zu Gott entschwebt.
»Ach, ach, das arme Mädel!«
Vor einigen Tagen wollte ich einen Bekannten besuchen, aber ich traf ihn nicht zu Hause an. Ich ging also wieder durch das Thor auf die Strasse hinaus und mich nach rechts und links umschauend, dachte ich darüber nach, wo ich denn noch hingehen könne. Vor mir befand sich ein öder Hof, der jedoch anderen leeren oder öden Höfen nicht ganz ähnlich war. Es war in demselben weder Haus, Scheuer noch Stall, nein, von alledem war nichts da, aber es war augenscheinlich, dass dieser Hof vor nicht allzu langer Zeit von seinen Bewohnern verlassen worden sein musste; auch musste das Haus meiner Meinung nach niedergerissen worden sein, denn von Brandspuren wie z. B. verkohlte Balken, zerfallene Öfen, Schutthaufen war keine Spur vorhanden. Mit einem Worte, es war deutlich zu erkennen, dass das Haus, welches hier gestanden, abgebrochen und seine Balken und Bretter weggeschafft worden waren. In der Mitte des Gehöftes, nahe am Nachbarzaune, standen mehrere hohe Bäume, Akazien, Feigen- und Pflaumenbäume, dazwischen vereinzelte Stachelbeersträucher, Rosenstöcke und Schlehdornsträucher und endlich nach der Strasse hin, gerade auf der Stelle, wo die Fenster des Hauses hingehen mochten, stand ein hoher grüner Feigenbaum.
Ich habe so manchen verödeten Hof gesehen und doch niemals im Vorübergehen darüber nachgedacht, wem er wohl gehört haben, wer wohl darin gewohnt haben mochte und wo wohl gegenwärtig seine einstigen Besitzer sein mögen. Sonderbarer Weise rief der Anblick dieses Hofes derlei Betrachtungen in mir hervor und wie ich ihn so anschaute, kamen mir die verschiedensten Gedanken in den Sinn. »Vielleicht,« dachte ich bei mir, »hat hier ein kinderloser Junggeselle unter Seufzen und Klagen sein Alter verbracht und wie sein Leben ausging, sind auch die Wände vermodert. Dann ward das Haus herrenlos, die Fenster und Thüren standen offen und als die finstern Winternächte kamen, fielen die Nachbarn darüber her und schleppten ein Brett nach dem andern fort.« Ja, verschiedene Gedanken kamen mir in den Kopf . . . Ach, so schwer ist es ein Haus zu bauen, und so leicht es niederzureissen!
Als ich so in meine Gedanken versunken dastand, kam auf einen Stab gestützt ein altes Weib an mir vorüber. Beim ersten Blicke erkannte ich sie nicht sogleich, aber als ich ihr nachschaute, sah ich, dass es Hripsime war.
Muhme Hripsime war eine Frau von fünf und siebenzig Jahren, doch ihrem sichern Gange, ihrer lebhaften Rede und ihren feurigen Augen nach zu urteilen, schien sie kaum eine Fünfzigerin zu sein. Sie war kräftig und kerngesund, urteilte wie ein Mann und war schneidig in ihrer Rede. Hätte sie nicht Weiberkleidung getragen, man hätte sie wirklich für einen Mann halten können. Ja, im Gespräch nahm sie es mit zehn Männern auf. Einmal, ich weiss nicht warum, wurde sie vor Gericht gefordert. Sie ging hin, stellte sich vor die Richter und sprach so tapfer, dass jene die Mäuler aufsperrten und sie wie ein Wundertier anglotzten. Ein anderes Mal drangen bei Nacht Diebe in ihr Haus ein, und zwar war sie da mutterseelenallein wie eine Eule im Hause. Die Diebe fingen an mit Brecheisen die Thür aufzubrechen und als das Muhme Hripsime hörte, sprang sie hurtig aus dem Bette, ergriff ihren Stock in der Ecke und fing an zu schreien: »Holla, Simon, Gabriel, Mathes, Stepan, Aswadur, steht schnell auf, ergreift Äxte und Stricke! Es sind Diebe da, packt die Halunken, bindet sie, haut sie, schlagt sie tot!« Die Diebe wussten wahrscheinlich nicht, mit wem sie zu thun hatten und als sie an dem Rufen der Alten bemerkten, dass ein halbes Dutzend handfester Kerle im Hause sei, machten sie sich davon. Ja, so ein schlaues, unerschrockenes Weib war Tante Hripsime!
»Guten Morgen, Muhme!« sagte ich.
»Gott grüss' dich,« erwiderte sie.
»Woher kommst du denn?«
»Ich war bei einem Kranken,« versetzte sie.
Ach ja, ich habe ganz vergessen, hier mitzuteilen, dass Muhme Hripsime, obgleich sie weder lesen noch schreiben konnte, eine tüchtige Ärztin war. Sie legte die Kranken ins Gras, gab ihnen Sorbet ein, kurierte Hämorrhoiden, die Fallsucht auch, und besonders in Frauenkrankheiten war sie sehr erfahren. Ja, für ihre Kunst kann ich selbst Zeugnis ablegen. Vor ungefähr vier Jahren bekamen meine Kinder in den Hundstagen den Durchfall und meine Frau hatte schon drei Jahre lang das Fieber, so dass sie ganz kraftlos war. Da sagten die Töchter des Goldarbeiters Arutin und die Frau des Ziegelstreichers Saak: »Es giebt ja hier eine vortreffliche Ärztin, sie nennen sie Hripsime, lasst sie doch einmal holen, Ihr werdet es nicht bereuen!«
Aufrichtig gestanden, habe ich bei unseren Doktoren nie viel Grütze im Kopfe gefunden; sie drehen sich auf den Absätzen herum, schmieren eine Menge Rezepte zusammen, aber ihre Kunst ist nicht einen Pfifferling wert. Ich liess also Hripsime holen und siehe da! es vergingen nicht drei Tage und das Fieber meiner Frau hörte auf und die Bauchschmerzen meiner Kinder waren auch vorbei. Seit vier Jahren hat nun, Gott sei Dank, keine Krankheit mein Haus heimgesucht. Ob das an der Geschicklichkeit und Leichtheit ihrer Hand oder an den Arzeneien liegt, weiss ich nicht, nur so viel weiss ich, dass Muhme Hripsime bis heute mein Hausarzt ist. Und was zahle ich ihr denn! Fünf Rubel jährlich, nicht weniger und nicht mehr. Wenn sie zu uns kommt, da giebt's einen wahren Feiertag für meine Kinder; so süss spricht sie mit ihnen und weiss die Herzen zu gewinnen. Ja, wäre ich ein Sultan, ich machte sie zum Vezier.
»Wie steht es denn um die Krankheiten in der Stadt?« fragte ich sie.
»Ach, davon sprecht lieber gar nicht!« erwiderte Hripsime. »Noch zehn solcher Jahre und unsere ganze Stadt wird zu einem Spital. Ach, der Himmel weiss, was das für Krankheiten sind! Und dazu sind sie noch ganz sonderbarer Art und sehr oft sterben die Leute ganz plötzlich. Die Glocken zerspringen fast von dem vielen Läuten, die Schaufel des Totengräbers ist stumpf geworden und von den vielen Nachfragen nach Särgen sogar das Holz im Preise gestiegen. Ja, was aus uns werden soll, weiss ich nicht.«
»Ist dir denn die Ursache dieser vielen Krankheiten nicht bekannt?« fragte ich.
»Ach, das ist ja klar,« entgegnete Muhme Hripsime, »es ist die Strafe für unsere Sünden. Was haben wir denn Gutes gethan, wofür wir Gnade von Gott zu erwarten hätten. Diebe, Falschmünzer, alles findest du unter uns. Das letzte Hemd ziehen sie dem Armen vom Leibe, unterschlagen Mündelgelder, Kirchengelder, mit einem Worte, es giebt keine Schandthat, die wir nicht des Nutzens wegen begängen. Wir dürfen uns also gar nicht wundern, wenn uns Gott dafür bestraft. Ja, Gott handelt ganz gerecht, gelobt sei sein heiliger Name! Im Gegenteil, es wäre zu verwundern, wenn uns Gott unbestraft liesse.«
Hripsime ereiferte sich nicht wenig und eben das hatte ich gewollt. Wenn sie einmal zu sprechen anfing, da hielt sie nicht mehr inne, die Worte quollen bei ihr wie aus einer Quelle hervor und je weiter, desto glatter ging es.
»Weisst du was?« begann ich wieder zu ihr, »ich stehe schon eine gute Weile vor diesem verlassenen Hofe und kann mich nicht erinnern, wessen Haus denn hier gestanden hat, weshalb man es abgebrochen und was aus seinen Bewohnern geworden ist. Du bist eine bejahrte Frau, hast in alle Winkel unserer Stadt geguckt und musst wohl etwas darüber zu erzählen wissen. Wenn du nichts Wichtiges vorhast, so thue mir doch den Gefallen und erzähle mir das, was du von den einstigen Bewohnern des verschwundenen Hauses weisst.«
Muhme Hripsime richtete ihre Blicke auf den öden Hof und den Kopf schüttelnd, sagte sie:
»Ach, lieber Sohn, die Geschichte dieses Hauses ist so lang wie unsere alten Märchen. Man muss sieben Tage und sieben Nächte erzählen, um zu Ende zu kommen.
»Dieser Hof war nicht immer so öde wie du ihn jetzt siehst. Einst stand hier ein nicht grosses, aber hübsches und sauberes Haus von Holz. Viel besser gefielen mir die hölzernen Häuser von früher als die jetzigen Steinhäuser, die von aussen wie Kasematten aussehen und im Innern wahre Kerker sind. Ein altes Sprüchwort sagt: »Im Stein- oder Ziegelhause wohnt es sich traurig.«
»Hier an dieser Stelle, dem Feigenbaume gegenüber,« fuhr sie fort, »stand ehemals ein Haus von fünf Fenstern Front, mit grünen Fensterladen und einem roten Dache. Weiter unten, dort bei den Akazien, stand ein Pferdestall, dann zwischen dem Hause und dem Stalle die Küche und der Hühnerstall, und da rechts vom Thore der Brunnen.« Bei diesen Worten trat Muhme Hripsime einige Schritte vorwärts und sich umschauend sagte sie: »Was ist denn das? Der Brunnen ist ja ganz verschwunden! Ich erinnere mich wie heute, dass hier an dieser Stelle, wo ich stehe, ein süsswassriger Brunnen war. Was ist mit ihm geschehen? Ich weiss, dass jedes Ding verloren gehen kann, aber ein Brunnen, wie kann der verloren gehen?« Hripsime bückte sich zur Erde und begann mit ihrem Stocke im Schutte zu scharren. »Schau her!« sagte sie plötzlich, »böse Buben haben den schönen Brunnen ganz mit Erde und Steinen zugeschüttet! Ach, der Geier hole ihn! Wenn Jemandem der Kopf abgehauen worden ist, da weint man nicht um seinen Bart. Der Brunnen thut mir nicht leid, aber der arme Sarkis und seine Familie, ach die thun mir sehr leid.«
»Weisst du wirklich genau, dass hier des Spezereihändlers Sarkis Haus gestanden hat? Den hatte ich ganz vergessen. Nun, sage mir doch, was ist denn aus ihm geworden? Wo ist er denn jetzt, lebt er noch oder ist er gestorben? Wo ist seine Familie? Ach, ich erinnere mich, er hatte eine hübsche Tochter und auch einen Sohn. Wo sind die jetzt?«
Muhme Hripsime antwortete nicht auf meine Frage und mit ihrem Stocke in der Erde scharrend, stand sie stillschweigend an der verschütteten Brunnenstelle.
Das Bild des Spezerei-Sarkis, wie wir ihn nannten, lebte plötzlich in meiner Erinnerung auf und mit ihm erwachte manches Erlebnis aus meinen Kindertagen. Ich erinnere mich, dass, als ich noch ein Knabe war, uns oft ein altes Mütterchen besuchte, die uns viel vom Spezerei-Sarkis erzählte, seine Frau und sein Hauswesen rühmte und uns immer seine Kinder als Muster vorhielt. Im Sommer, wenn das Frühobst reifte, besuchte sie oft sein Haus, pflückte in seinem Garten Früchte und kam dann immer mit gefüllten Taschen zu uns. Sie brachte uns Eierpflaumen, Safranäpfel, Feigenbirnen und noch viele andere Früchte. Seit dieser Zeit kannten wir Sarkis, und wenn meine Mutter eine Kleinigkeit fürs Haus brauchte, da holte ich sie immer in seinem Laden.
Ich liebte ihn sehr, diesen Sarkis; er war ein stiller, sanfter Mann, um dessen Mund immer ein Lächeln schwebte. »Was wünschest du, mein Kind?« fragte er immer, wenn ich in seinen Laden trat. »Die Mutter lässt Sie grüssen!« antwortete ich, »sie bittet Sie um das und das.« – »Gut, gut, mein Kind, du sollst es haben,« antwortete er gewöhnlich und gab mir noch immer ein Stück Zuckerkant mit den Worten: »Das ist für dich, iss es, das ist gut für den Husten!« Es kam niemals vor, dass ich aus seinem Laden ging, ohne von ihm etwas bekommen zu haben. Mit Zuckerkant beschenkte er mich im Winter, zur Sommerszeit aber hatte er immer in seinem Laden ganze Schwingen voll Aprikosen, Pflaumen, Birnen und Äpfeln, was natürlich alles aus seinem eigenen Garten kam. Sein Garten stand damals – es werden dreissig oder fünf und dreissig Jahre her sein – in grossem Ruhme. Einmal schickte mich meine Mutter wieder zu Sarkis in den Laden, um, wie ich mich erinnere, Safran zum Pilaw zu holen. Sarkis gab mir, was ich verlangte, und da er wohl bemerken mochte, wie gierig ich die Obstschwingen anschaute, sagte er: »Nun, heute sollst du dir in meinem Garten gütlich thun, du weisst doch, wo mein Haus ist?« – »Ja, ich weiss,« antwortete ich, »nicht weit von der Marienkirche.« »Ja wohl, mein Sohn,« sagte er, »du hast es gefunden, es hat grüne Fensterladen und davor steht ein Feigenbaum. Nun, nimm diesen Korb, trage ihn zur Tante2 und sage, ich liesse ihr sagen, sie solle dich mit meinem Sohne Toros in den Garten hineinlassen und dort mögt ihr essen, was ihr wollet.« Er gab mir einen sauberen Korb in die Hand und als ich hineinschaute, erblickte ich darin eine Hammelleber. Vor dieser ekelte mir so sehr, als wäre es ein krepierter Hund gewesen. Zu jener Zeit verabscheute man die Leberesser nicht weniger als Diebe und Falschmünzer; sie waren mit ihrer ganzen Familie dem Spotte ausgesetzt und ordentliche Leute gingen gar nicht mit ihnen um. In jenem Augenblicke vergass ich ganz und gar, dass Sarkis ein guter Mensch sei, ich vergass seinen Obstgarten und seine hübsche Tochter, von der mir unser altes Mütterchen so viel Schönes erzählt hatte. Die Leber hatte mit einem Male alles verdorben. Sarkis bemerkte das und fragte mich lächelnd: »Was ist denn mit dir?« – »Habet Ihr einen Hund im Hofe?« fragte ich ohne auf seine Worte zu achten. »Nein,« sagte er. »Für wen ist denn also diese Leber?« – »Für niemand anders als für uns, wir werden sie selbst essen.« Ich schaute Sarkis an, ob er nicht mit mir scherze, aber nein, in seinem Gesichte war keine Spur von Scherz zu bemerken. »Esst Ihr wirklich die Leber selbst?« fragte ich. »Was wunderst du dich denn?« entgegnete er, »ist denn die Leber nicht zum Essen?« »Hunde fressen Lebern,« sagte ich verletzt und wandte mich ab, denn Sarkis kam mir in jenem Augenblicke wie ein Leichenfresser vor.
Nach einer Weile kam ein hübscher, anständiger Knabe in den Laden. »Mama hat mich hierher geschickt, um das, was du auf dem Basar gekauft hast, abzuholen,« sagte er. »Auf dem Herde ist längst Feuer.« Ich erfuhr nun, dass dieser Knabe Toros, Sarkis' Sohn war. Schon am Gesichte erkannte ich, dass Toros ein guter Junge war und ich gewann ihn von Herzen lieb. »Hier mein Söhnchen, nimm das!« sagte Sarkis und reichte ihm den Korb, den ich bei Seite gestellt hatte. Toros blickte hinein und als er die Leber erblickte, sagte er: »Wir werden heute zum Mittagessen Pastete haben?« dann setzte er die Mütze auf und wollte weggehen. »Toros!« rief ihm der Vater zu, »nimm Melkon mit, führe ihn zu uns nach Hause und spiele mit ihm wie mit einem Bruder!«
Ich war sehr erfreut über diese Einladung und ging mit Toros hinaus. Als wir bei Sarkis' Hause ankamen und durch das Thor in den Hof traten, war es mir, als befände ich mich in einer ganz neuen Welt. Der Hof war sauber, nirgends lag Gemülle umher; hie und da liefen hübsche Hühner, Enten und Truthühner mit ihren Küchlein umher; auf dem Dache sassen Tauben der besten Art, dann war der Hof stellenweise von hübschen, grünen Bäumen beschattet, das Haus hatte einen sauberen Balkon und unter den Dachrinnen standen grün bemalte Fässer zum Aufnehmen des Regenwassers. In den Fenstern standen verschiedene Blumen, auf dem Balkon hingen Käfige mit Stieglitzen, Nachtigallen und Kanarienvögeln, mit einem Worte, alles, was ich sah, war sauber, heimlich und anmutig.
In der Küche wurde gekocht, denn dichter Rauch stieg aus dem Schornstein empor. An der Küchenthür stand Sarkis' Frau, die wohl dreissig Jahre alt sein mochte und eine gesunde, rotwangige und kräftige Frau war. Vom Feuer, das auf dem Herde brannte, waren ihre Wangen noch mehr gerötet, so dass, wie man zu sagen pflegt, die Röte geradezu aus ihnen hervorquoll. Auf dem Balkon sass auf einer Holzbank ein Mädchen, das nach damaliger Mode einen roten Atlasfez auf dem Kopfe trug. Das war Toros' Schwester. Ich habe in meinem Leben viele schöne Mädchen gesehen, aber ein schöneres niemals. Ihr Name war Takusch.
Mit Erlaubnis der Mutter betraten wir den Garten, wo wir uns mit gutem Obste gütlich thaten und am Dufte der vielen Blumen ergötzten. Gegen Mittag kam Sarkis aus dem Laden und lud mich zum Mittagessen ein, während dessen meine Blicke fortwährend auf die schöne Takusch gerichtet waren . . . Ach, unvergessliche Jahre, wie schade, dass sie so schnell vergangen sind!
Zwei oder drei Monate später fuhr ich hinunter ans Schwarze Meer und trat dort bei einem Kaufmann in die Lehre. Seit dieser Zeit war ich vierundzwanzig Jahre lang nicht in meiner Vaterstadt und alles, was ich jetzt eben erzählt habe, ist bei meiner Begegnung mit Hripsime blitzschnell in meiner Erinnerung erwacht.
Die Alte stand immer noch an der Stelle des zugeschütteten Brunnens und scharrte mit ihrem Stocke im Boden herum.
»Nun, Muhme Hripsime, wo ist denn jetzt Sarkis und seine Familie?« fragte ich.
»Hast du ihn denn gekannt?« fragte sie verwundert.
»Ja, ein wenig,« entgegnete ich.
»Deine Eltern hatten wohl Umgang mit ihm?«
»Nein, ich war nur einmal in seinem Hause und zwar noch als Knabe.«
»Ach, damals! O das war seine glücklichste Zeit. Ach, welche Belustigungen wir oft in seinem Garten hatten. Ja, früher war es nicht so wie jetzt. Nicht eine Spur ist von diesem herrlichen Garten geblieben. Auch das Haus ist verschwunden. Sieh' mal, dort war die Küche, dort der Hühnerstall, dort die Scheune, hier der Brunnen.«
Bei diesen Worte wies sie mit ihrem Stocke nach jeder Stelle, aber von den von ihr genannten Gebäuden war keine Spur mehr vorhanden.
»Ach, ach, mein Sohn!« fuhr sie weiter fort. »Der, der das Glück dieser guten, Gott wohlgefälligen Leute zerstört, der ihr Haus niedergerissen und die ganze Familie nach allen Winden auseinander gejagt, der wie ein Wolf über ihr Hab und Gut hergefallen ist, der mag von Gott gerichtet werden. Ich wünsche diesem Menschen kein Übel, aber, wenn es einen Gott im Himmel giebt, mag dieser Mensch keine Ruhe in seinem Hause finden, mögen ihm seine Kinder keine Freude bereiten und mag er in seinen vier Mauern nie des Glückes ansichtig werden! Wie er diese vier armen Schlucker zu Grunde gerichtet und ihren frühen Tod verschuldet hat, so mag auch er dafür in der weiten Welt unstät umherirren und auch im Schlafe keine Ruhe finden. Ja, mag mit seinem Reichtum an Gütern auch sein Kummer und Weh wachsen!
»Ich kannte Sarkis schon, als er noch ein Knabe war. Um die Zeit, als du ihn kennen lerntest, mag er wohl schon an vierzig Jahre alt gewesen sein. So wie du ihn gesehen hast, war er immer, nämlich schweigsam, bescheiden, fromm, mildthätig gegen die Armen und gastfrei. Es kam niemals vor, dass er seine Frau barsch angeredet oder die Hand gegen seine Kinder erhoben hätte. Immer war er zufrieden mit dem, was er hatte, nie beklagte er sich, dass er zu wenig habe, niemals begehrte er das Gut eines Andern. Ja, ein so Gott wohlgefälliger Mann war Sarkis und dieselben Tugenden besass seine Frau. Noch in früher Kindheit verlor sie ihre Eltern, worauf sie Verwandte ihrer Mutter zu sich nahmen, aber sehr schlecht behandelten. Ja, bitter ist das Los der Waisen, denn selbst, wenn sie Vermögen haben, sind sie nicht besser daran als arme. Man sagte, dass, als ihr Vater starb, er ihr einen Laden mit Waren im Werte von 3000 Rubeln und ausserdem noch 2000 Dukaten bares Geld hinterliess, aber kaum war er gestorben, als die Verwandten kamen und als Vormünder der Waise die Waaren und das Gold in Sicherheit brachten. Als sie vierzehn Jahre alt war, freite einer nach dem andern um sie, aber wie die Brautwerber erfuhren, dass von dem Vermögen nichts mehr da sei, suchten sie das Weite und das Mädel blieb sitzen. Zum Glücke für sie erschien Sarkis. Dieser sagte: »Ich will eine Freundin haben, ich suche kein Vermögen,« und die Verwandten gaben sie ihm natürlich sofort und mit ihr auch allerlei alte Lumpen, einige halb zerbrochene Möbel und mehrere alte Goldstücke. »Das ist alles, was ihr Vater hinterlassen hat,« sagten sie. Dann verlangten sie noch von ihm einen Empfangschein über die ganze Hinterlassenschaft des Vaters und schafften sie sich so vom Halse.
»Zu jener Zeit hatte Sarkis selbst noch nichts und war eben so ein armer Schlucker wie seine Frau. Er war Ladendiener und bekam wohl jährlich nicht mehr als 150 Rubel in Assignaten, was nach heutigem Gelde kaum den dritten Teil ausmacht. Ja sie waren Beide arm, aber Gottes Barmherzigkeit ist gross und niemand ergründet seine Ratschlüsse. In demselben Jahre starb plötzlich der Kaufmann, bei welchem Sarkis diente und vermachte ihm den ganzen Laden mit allem, was darin war unter der Bedingung, der hinterbliebenen Wittwe jährlich eine gewisse Summe auszuzahlen. Sarkis übernahm das Geschäft und wurde nach drei Jahren alleiniger Besitzer desselben. Allmälig vergrösserte er es und auf diesem Grundstücke, das er von seinem Vater geerbt hatte, führte er ein nettes Haus auf und bezog es. In demselben Jahre schenkte ihm Gott eine Tochter, der er den Namen Takusch gab, vier Jahre später kam sein Sohn Toros zur Welt.
»Ja, so gründeten sich diese beiden Waisen eine hübsche Wirtschaft und wurden zu Leuten. Diejenigen, die früher über sie gelacht hatten, suchten jetzt ihren Umgang und fingen an sich in Lobeserhebungen über Sarkis zu ergehen, aber Sarkis blieb derselbe gottesfürchtige Sarkis. Er sagte niemand ein böses Wort und machte auch den Verwandten, die seine Frau so bestohlen hatten, keine Vorwürfe. Ja als die Verwandten jene Erbschaft durchgebracht hatten und in Not gerieten, unterstützte er sie sogar.
»Wie gesagt, Sarkis versagte niemand seinen Beistand, aber auch seine Frau hatte ein gutes Herz. Was sie gutes that, lässt sich gar nicht erzählen. Wie oft buk sie Prezeln, Kuchen, Milchbrode und Zuckerzwieback und schickte ganze Bleche davon denen, die das nicht haben konnten, denn sie sagte: »Mögen die, die vorübergehen und den Duft meiner Kuchen riechen, nicht umsonst danach verlangen!«
»Um jene Zeit starb mein Mann (Gott mache ihn selig!) und ich blieb mutterseelen allein. Da kam Sarkis' Frau zu mir und sagte: »Was wirst du da so einsam in deinem Hause wohnen, vermiete es und komme zu uns!« Ich zögerte natürlich nicht lange, legte alle meine Sachen in einen grossen Kasten und zog zu ihnen und bald lebten wir wie zwei Schwestern mit einander. Takusch war damals fünf Jahre alt, Toros aber war noch ein Säugling. Zehn Jahre wohnte ich in ihrem Hause und hörte während dieser Zeit nicht ein einziges barsches Wort von ihnen. Nicht ein einziges Mal sagten sie zu mir: »du isst unser Brod, du trinkst unser Wasser, du trägst unsere Kleider!« Nein, solche Reden führten sie nie und im Gegenteil, sie setzten mich an den Ehrenplatz. Ja, so ehrten sie mich. Und du lieber Gott, was war ich denn für sie? Weder eine Mutter, noch Schwester, noch Tante, noch irgend eine Anverwandte! Ich war für sie eine von der Strasse gekommene Fremde!
»Ja, solche gottesfürchtige Leute waren Sarkis und seine Frau. Die armen Schlucker glaubten, alle Menschen wären so reinen Herzens wie sie. Ich hatte schon damals eine Ahnung, dass das nicht gut enden würde und machte ihnen oft Vorstellungen und bat sie, sie möchten sich etwas vor den Leuten vorsehen, aber da hatte ich gut reden, denn sie sangen ihr altes Lied weiter.
»Wie ein süsser Traum vergingen mir die zehn Jahre bei diesen guten, von reiner Muttermilch genährten Leuten. Ich kannte weder Schmerz noch Trauer, noch dachte ich daran, was ich morgen essen oder womit ich mich bekleiden würde. Wie Gottes Hand freigebig ist, war auch ihr Haus für mich. Zwölf Monate lang im Jahre sass ich ruhig an meinem Spinnrade und besorgte mein Geschäft.
»Einmal während der Hundstage – Takusch war damals schon fünfzehn Jahre alt und begann ihr sechzehntes – breiteten wir gegen Abend nach alter Sitte im Garten einen Teppich aus, stellten ein Tischchen darauf und setzten uns um denselben herum, um Thee zu trinken. In unserer Nähe dampfte und siedete die glänzend reine Theemaschine und um uns her verbreiteten Rosen und Nelken ihre Wohlgerüche. Es war ein schöner Abend und er wurde noch schöner, als der Vollmond wie eine goldene Schüssel am Himmel aufstieg. So lebhaft erinnere ich mich an diesen Abend, als wäre es gestern gewesen. Takusch goss den Thee ein und Muhme Mairam, Sarkis' Frau, nahm eine Tasse, aber wie sie sie an die Lippen führte, fiel sie ihr aus der Hand und der Thee floss ihr aufs Kleid. Mir wurde sonderbar zu Mute, als ich dies sah, denn mein Herz sagte mir, dass das etwas Schlimmes zu bedeuten habe. »Das Böse bleibe fern, das Gute komme!« flüsterte ich und bekreuzte mich im Stillen. Dabei blickte ich auf Takusch und sah, dass die Arme die Farbe gewechselt hatte, denn auch ihre unschuldige Seele mochte etwas Böses ahnen. Sarkis und Mairam blieben jedoch munterer Dinge und dachten gar nicht an derartige Dinge. Mochten sie auch tausend Mal nicht daran glauben, was kommen soll, kommt doch! Mairam nahm das Mundtuch, wischte sich das Kleid ab, Takusch goss ihr eine frische Tasse ein. »Es wird gewiss ein Gast mit süsser Zunge kommen,« sagte Sarkis lächelnd, »Mairam, stehe auf und ziehe ein anderes Kleid an, denn sonst musst du dich schämen, wenn Jemand kommt!« – »Wer könnte denn heute noch kommen!« entgegnete Mairam lächelnd, »und übrigens wird ja das Kleid schnell trocknen.«
»Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als die Gartenthür mit Geräusch geöffnet wurde und ein Herr im Hute hereintrat. Kaum war er in den Garten getreten, als er auch schon seine Ziegenstimme hören liess und wie eine Windmühle zu plappern anfing. »Guten Abend, wie geht's? . . . Ihr trinkt Thee, ja? . . . Das ist sehr schön von euch . . . Ach was für eine prächtige Luft hier ist! . . . Guten Abend, Herr Sarkis! Guten Abend, Frau Mairam, guten Abend, Hripsime! Was macht ihr? . . . Ich trinke auch sehr gern Thee im Freien. Was für einen schönen Garten ihr habet! Darf ich diese Kirschen kosten? . . . Hm, sie sind nicht schlecht! Nein, das sind prachtvolle Kirschen! Wenn ihr mir so ein Tuch voll von diesen Kirschen geben möchtet, ich würde sie meiner Frau nach Hause tragen. Und was sind das für prächtige Aprikosen! Herr Sarkis, weisst du was? Verkaufe mir dein Haus! . . . Nein, ich will dir etwas Besseres sagen. Komm mal in meinen Laden, du weisst ja, wo er ist! Dort in dem neuen zweistöckigen Hause. Ja, ja, komm einmal zu mir! Da setzen wir uns ganz gemütlich vor den Schreibtisch und werden von verschiedenen Moskauer Fabriken plaudern.«
»Wir waren wie versteinert. Es giebt in der Welt verschiedene verrückte Kerle, Plaudertaschen und Windbeutel, aber so ein Geschöpf sah ich zum ersten Male im Leben. Und weisst du, wer das war? Der Hämorrhoidenhans!«
»Hast du von ihm gehört, hast du diese Gottesgeisel gesehen?« fuhr Hripsime fort.
»Nein, ich kenne ihn nicht,« sagte ich.
»Was? du wohnst doch in unserer Stadt! Giebt es denn hier Jemand, der diesen Schurken nicht kannte? Geh nur zu den Mäklern, die werden dir erzählen, wieviel Leute er durch Betrug um Haus und Hof gebracht und aus der Stadt hinausgejagt hat. Hast du gesehen, wie die Vogelsteller die Vögel in ihre Netze locken, wie sie ihnen Lieder vorpfeifen? So lockt auch dieser Hans die Leute in seine Falle. Heute stellt er sich ganz dumm, morgen ist er plötzlich klug und versteht die Sache, dann ist er wieder ganz einfältig und das reine Lamm, einmal ist er geizig, dann wieder freigebig und so treibt er es fort. Ja, wie ein Fuchs schleicht er mit dem Schwanze wedelnd unter den Leuten herum, bohrt, wenn er sich ein Opfer ausersehen, diesem seine Krallen in den Nacken und der arme Schlucker ist verloren. Entweder macht er ihn für immer zu seinem Schuldner und lässt ihn vor Zinsenzahlung gar nicht zu Atem kommen oder er zieht ihn gleich bis aufs Hemd aus und lässt ihn laufen. Nun, höre nur zu, wie die Geschichte weiter ablief!«
»Guten Abend!« sagte Sarkis, als er den Hämorrhoidenhans bemerkte und reichte ihm die Hand entgegen. »Welcher Wind hat euch denn hierher geweht? Mairam, giesse unserem geehrten Herrn Johannes eine Tasse Thee ein.«
»Herr Sarkis, weisst du, warum ich zu dir gekommen bin?« begann Hans. »Die ganze Welt ist voll von deinem Lobe; überall spricht man von dir, und da dachte ich bei mir: »Ich muss doch einmal hingehen und sehen, was das für ein Mann ist, dieser Sarkis!« Und da bin ich halt gekommen, entschuldige meine Dreistigkeit! Ich bin einmal so, ich gleiche in nichts unseren Stubenhockern. Ich bin so etwas, weisst du, nach europäischer Façon, wer mir gefällt, den besuche ich ganz einfach, stelle mich ihm vor und mache seine Bekanntschaft. Dann lade ich ihn in mein Haus ein, gehe wieder zu ihm und bringe auch meine Familie mit. Ja, so ein Kerl bin ich, mag mich auslachen, wer da will!«
»Ach,« dachte ich, »der arme Sarkis ist schon in seine Netze gefallen und mit ihm seine Familie.«
»Unterdessen hatte Mairam Thee eingegossen, stellte die Tasse auf ein Theebrett und Takusch setzte sie dem Hans vor. »Wo kauft ihr denn den Thee?« begann dieser die Tasse nehmend. »Wenn ihr Thee wollt, so kauft doch welchen bei mir, ihr wisst ja, wo mein Laden ist! Ich kann euch jede beliebige Sorte geben und noch dazu zu billigem Preise. Den Thee, der zwei Rubel kostet, gebe ich euch für einen Rubel und fünf und neunzig Kopeken. Ja, euch will ich ihn sogar mit Verlust verkaufen. Ach, was ihr für schlechten Thee trinket! Solchen Thee gebe ich nur meinen Arbeitsleuten zu trinken.« Dabei fing er an zu schlürfen und leerte im Nu die Tasse. »Seid so gut und gebt mir noch eine Tasse,« sagte er, »in der frischen Luft bekommt man Appetit. Wenn ich mit Genuss Thee trinken will, lass' ich mir immer meinen Wagen anspannen und fahre hinaus in den Klostergarten. Dort trinke ich im Freien zwei, drei Gläser und abgemacht. Ja, solche europäische Gebräuche gefallen mir.«
»Wohl bekomms dir!« sagte Sarkis.
»Nun, wie steht's, Herr Sarkis, kommst du morgen zu mir?« fragte der Hämorrhoidenhans.
»Ich werde sehen,« entgegnete Sarkis.
»Was ist da zu sehen? Wenn du kommen sollst, da komme! Wir setzen uns hinter den Ladentisch, trinken unser Glas Thee und werden plaudern. Ja, dann und wann werden wir etwas über europäische Dinge sprechen, von Buchführung, Zeitungen und anderen Dingen!«
»Gut, gut, ich werde schon kommen, es läuft ja nicht fort.«
»Nun gut, für mich ist es schon Zeit abzuschieben, denn ich muss heute noch zwei Besuche machen,« bemerkte der Hämorrhoidenhans.
»Macht man denn um diese Stunde Besuche?« versetzte Sarkis. »Es muss doch schon gegen zehn Uhr sein. Takusch, zünde ein Licht an!«
»Takusch ging in das Zimmer und kehrte bald darauf mit einem Lichte zurück. Sarkis zog nun seine Uhr aus der Tasche und sie dem Lichte nähernd, sagte er: »Siehst du, es ist schon drei Viertel auf zehn!« Hans schaute hin und rief sogleich aus: »Ach, Herr Sarkis, was für eine prächtige Uhr hast du da! Woher hast du sie? Das scheint mir eine kostbares Ding zu sein. Zeige sie doch einmal!«
»Diese Uhr habe ich von unserem verstorbenen Kaiser zum Geschenk erhalten,« erzählte Sarkis. »Du weisst doch, dass vor einigen Jahren der verstorbene Kaiser Taganrog besuchte. Bei dieser Gelegenheit wollten ihm die Taganroger ein prächtiges Pferd schenken, aber sie konnten keinen anständigen Sattel finden. Zufälliger Weise besass ich einen solchen und als sie dies erfuhren, kamen sie zu mir und sagten mir wozu sie den Sattel brauchten. Nun, wer wäre denn für den Kaiser zu einem solchen Opfer nicht bereit; ja, nicht nur einen kostbaren Sattel (der ist ja nicht viel wert), aber sogar sein Leben wird Jeder gern opfern. Ich mietete also sogleich einen Wagen, nahm den seltenen Sattel mit und vorwärts nach Taganrog zum Gouverneur. »Eure Durchlaucht sucht einen Sattel?« fragte ich. »Ja wohl,« antwortete er, »hast du denn so einen?« – »Da ist er!« sagte ich. »Danke dir!« sagte er und drückte mir die Hand. Dann führte er mich in seine Zimmer. Donnerwetter! es sah dort aus wie in einem Königsschlosse! Er liess mich setzen, bewirtete mich mit Thee, lud mich zum Mittagessen an seinen Tisch, mit einem Worte, er behandelte mich anständig. Beim Abschiede nahm er aus einer Schublade einen Ring mit echten Brillanten, gab ihn mir und sagte: »Nimm das von mir zum Geschenk und was ich vom Kaiser bekomme, gebe ich dir auch.« Und er hielt sein Wort. Der Kaiser kam wirklich, man schenkte ihm das Ross mit dem Sattel, Seine Majestät dankte dafür und gab mir diese Uhr. Schaue nur, was das für ein schönes Ding ist!«
»Ja, wirklich, das ist ein hübsches Ding, zeige es doch einmal, ich will sehen, was das für eine Uhr ist,« sagte der Hämorrhoidenhans, die Uhr betrachtend. »Und den Ring hast du bei dir? Ja? Kann ich ihn sehen? Ach, lass mich einmal sehen, was das für ein Ding ist. Ich sehe solche Sachen sehr gern, besonders wenn sie von hohen Personen herrühren.«
»Ist der Ring nicht in der Kommode?« fragte Sarkis seine Frau anschauend.
»Ja, ich habe ihn dort aufgehoben,« entgegnete Mairam zaghaft, denn sie mochte wohl etwas Schlimmes ahnen. »Wer ward denn jetzt in der Nacht in der Kommode herumwühlen!«
»Gute Muhme Mairam!« begann Hans mit schmeichlerischem Tone, »ich bitte, bringen Sie den Ring, zeigen Sie mir ihn. Seien Sie so gut! Wenn ich solche seltene Sachen sehe, da hüpft mir das Herz in der Brust vor Wonne. Es ist eine wahre Freude für mich, solche Sachen in der Hand zu halten und sie zu betrachten. Ich bitte, bringen Sie den Ring!«
»Ich schaute ihn in diesem Augenblicke an und er erschien mir wirklich wie ein echter Zigeuner. Hätte ich nicht auf die Anwesenden Rücksicht nehmen müssen, ich hätte ihm sicherlich ins Gesicht gespuckt, so zuwider war mir dieser Schurke. Ja, es ist wahr, was das Sprüchwort sagt: »Wenn ein Reicher verarmt, so duftet er noch vierzig Jahre lang nach Reichtum, wenn aber ein Armer reich wird, so stinkt er vierzig Jahre lang noch nach Armut.« So war es auch mit diesem Hämorrhoidenhans. Ach, wenn es in meiner Macht gelegen hätte, ich hätte den Kerl beim Kragen gepackt und zum Thore hinausgejagt, aber Sarkis war nicht nach meinem Temperamente, der hatte ein weiches Herz und war sanft wie ein Lamm. Ich trat zu ihm, stiess ihn an den Ellenbogen und flüsterte ihm zu: »Was machst du denn, du gutmütiger Narr? Warum hast du ihm die Uhr in die Hand gegeben und willst ihm gar noch den Ring zeigen? Du wirst sehen, er hat böse Gedanken. Ich wette um meinen Kopf, dass er dir ein Unheil auf den Hals bringt. Siehst du denn nicht seine gierigen Augen? Er will ja dich samt Haus und Hof verschlingen!«
»Aber da hatte ich gut reden! Obgleich ein Mann in reifem Alter, war Sarkis doch nur wie ein Knabe und glaubte, alle Leute wären so redlich wie er. Gott weiss, vielleicht war ihm nun einmal so ein Schicksal beschieden und es war ihm unmöglich dem Unglücke aus dem Wege zu gehen. Mairam brachte den Ring und als ihn der Schurke nur erblickte, riss er ihr ihn sofort aus der Hand und steckte ihn sich auf den Finger.
»Was das für ein hübsches Ding ist!« sagte er schmunzelnd. »Wie das glänzt, was für ein seltener Ring, was für ein wunderschöner Brillant! Was soll ich dir für diesen Ring geben? Verkaufe ihn mir. Mir gefällt er ausserordentlich, ja, ohne Scherz, verkaufe ihn mir . . . Nein, wir wollen es anders machen. Ich will dir dafür aus meinem Laden allerlei Waren zu sehr billigem Preise geben. Ja, sehr billig, es soll mich der Schlag rühren, wenn ich etwas dabei verdienen will. Ich verkaufe dir alles zum Einkaufspreise, und wenn du willst, gebe ich dir noch am Rubel zehn Kopeken Rabatt.«
»Nein, lieber Herr!« sagte Mairam verlegen, »kann man denn ein Andenken vom Kaiser und einem so hohen Würdenträger verkaufen? Wir haben es ja auch nicht nötig. Wir sind ja keine Juden, die alles verschachern und zu Gelde machen, was ihnen in die Hände kommt. Sind wir denn solche arme Schlucker, um nicht etwas Gutes und Wertvolles im Kasten haben zu können? Nein, Herr Johann, was du sprichst, das kommt mir ganz absonderlich vor. Du bist ja reich und sagst, du hättest in deinem Leben keine goldene Uhr noch einen Ring mit Brillanten gesehen! Das ist mir eine schöne neue Sitte, dass man das, was man sieht, sogleich haben will. Nein, lieber Herr, richte deine Blicke nicht auf unser Gut und sei zufrieden mit dem, was du selbst hast.«
»Frau Mairam!« sagte der Schurke schmunzelnd, »warum bist du denn gleich so böse, darf man denn mit dir nicht scherzen?«
»Ein schöner Scherz!« sagte ich meinerseits. »Du hast die Bäume erblickt und gleich wolltest du sie umhauen. Wie ein Wolf bist du übers Obst hergefallen. Hast den Garten erblickt und gleich willst du ihn kaufen. Auch den Ring willst du haben und ihn gegen deine Waren eintauschen. Was für Albernheiten schwatzt du uns denn da vor? Entweder bist du selbst verrückt oder du willst andere verrückt machen. Ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamme, das sieht man an dir!«
»Muhme Hripsime, was bist du so böse auf mich? darf man denn nicht scherzen?«
»Genug, genug, ich verstehe schon deine Scherze!« rief ich entrüstet.
»Ja, wir Weiber wuschen ihm ganz gehörig den Kopf, aber Sarkis sagte kein Sterbenswörtchen. Wie dieser Stock hier in meiner Hand, so sass er stumm und wortlos da. Der Herrgott hatte ihm ja auch eine Zunge zum Sprechen gegeben, aber du lieber Himmel! Er sass da wie ein Klotz und brachte keinen Laut heraus und ich, ich wäre beinahe vor Wut geplatzt.
»Und jener gewissenlose Kerl wiederholte noch sein Gerede: »Versteht ihr denn keinen Spass? Versteht ihr denn keinen Spass?« Schöne Spässe! Er wollte uns übers Ohr hauen und das nannte der Kerl einen Spass! Und wie der Kerl aussah! Sein Gesicht glich ganz einem Trommelfell. Es war als ob man von dieser Fratze das heilige Salböl mit einem Fleischerschwamme abgewischt hätte. Ja, da siehst du, wie die Leute reich werden, wie sie sich zu Eigentümern fremden Gutes machen. Das Gewissen jagen die Schurken zum Geier, lassen sich die Gesichtshaut dick wachsen, stellen sich äusserlich dumm, wenn man ihnen ins Gesicht spuckt, nehmen sie das auf wie einen Mairegen, wenn man sie ausschimpft und ihnen Schurkereien vorwirft, nehmen sie das wie einen Scherz entgegen und so werden die Halunken schon reich. Ja, aber zu so etwas muss man geboren werden, anders verstehe ich's nicht. Ach, wenn du wüsstest, was wir diesem Schurken alles ins Gesicht sagten, ja, beinahe hätten wir ihn am Kragen gepackt und zum Thore hinausgeführt. Der abgebrühte Kerl that dabei wie dumm, schwieg und lachte uns ins Gesicht, als hätten wir gar nicht zu ihm, sondern zu einem andern gesprochen! Weder die Uhr zog er aus der Tasche, noch den Ring vom Finger. Da dachte ich endlich bei mir: »Ich will doch schweigen und sehen, was daraus werden wird!«
»Und weisst du, was dieser gewissenlose Schurke nach kurzem Schweigen zu unserem Sarkis sagte? »Gevatter!« sagte er, »deine Uhr und dein Ring gefallen mir sehr; gieb sie mir auf einen oder zwei Monate, ich will sie nach Moskau schicken und mir ganz ähnliche machen lassen. Sobald ich sie zurück bekomme, gebe ich sie dir unversehrt zurück.«
»Unser dummer Sarkis wagte nicht »nein!« zu sagen und ging darauf ein.
»Nimm sie!« sagte er, »aber sei vorsichtig, damit sie nicht verloren gehen, denn . . .«
»Aber was glaubst du denn?« antwortete Jener, »bin ich denn? . . .«
»Wo kauft ihr denn den Zitz?« begann der Schurke nach einer Weile. »Wieviel zahlt ihr für die Elle? Wo kauft ihr die Leinwand? Wie hoch kommt euch die Elle Tuch zu stehen? Wo kauft ihr die Seide und wo den Sammet?« Gott weiss was er noch alles zusammen plapperte und Sarkis stand ihm Rede und erzählte alles, wie es in Wirklichkeit war. »Wir,« sagte er, »kaufen die Manufakturwaren beim gelben Pogos,« und ohne etwas zu verheimlichen, sagte er ihm noch die Preise dazu. »Hast du denn den Verstand verloren?« rief der Hämorrhoidenhans aus, »kann denn ein Mensch bei vollen Sinnen etwas beim gelben Pogos kaufen! Weisst du denn nicht, dass das ein Gauner ist? Warum kaufst du denn deine Waren nicht bei mir? Ich gebe sie dir um die Hälfte billiger.« Hierauf erwiderte ihm Sarkis: »Wenn ich wieder etwas brauche, werde ich es bei dir kaufen.«
»Ich wusste ganz genau, dass Sarkis damals nichts brauchte und es nur sagte um den Kerl loszuwerden. Aber dieser verstand ihn nicht oder stellte sich absichtlich so, als ob er ihn nicht verstände und begann wieder: »Nein, so mache es nicht! Komme morgen zu mir und suche dir aus, was dir gefällt. Du denkst doch nicht etwa, dass ich an dir etwas verdienen will! Mag die Ware bei dir im Schrank liegen, denn unter uns gesagt, in diesem Jahre war die Ware in Moskau sehr billig, drum habe ich geschickt die Angel ausgeworfen und alles zum halben Preise gekauft. Für meine Abnehmer ist dieses Jahr so günstig, dass Jeder, wenn er die Ware einige Zeit liegen lässt, dann mit Bestimmtheit das Doppelte löst. Ja, kaufe, sage ich dir, aber nicht ellenweise, sondern stückweise und ich sage dir, du wirst es nicht bereuen. Wenn du willst, schicke ich dir morgen fünf oder sechs Stück von verschiedener Ware.«
»Aber wozu denn so eilen?« sagte Mairain, »meine Kommode ist voll von Stoffen zu Kleidern und was ich anhabe, ist auch noch ganz neu. Wenn wir etwas brauchen sollten, werden wir selbst kommen.«
»Aber was sagst du da, Tante!« versetzte der Hämorrhoidenhans. »Glaubst du mir denn nicht? Ich sage dir, in diesem Jahre könnt ihr für die Ware das Doppelte lösen und wenn ihr selbst nicht alles braucht, gebt's den Nachbarn, ihr werdet ein gutes Geschäft machen. Ja, ich gebe euch mein Ehrenwort, dass ihr das Doppelte daran verdient. Werde ich denn eines solchen Quarkes wegen lügen? Wen glaubt ihr denn vor euch zu haben, für wen haltet ihr mich denn? Schliesslich ist das eine Kleinigkeit, aber ich werde euch etwas Besseres sagen. Ihr müsst bei mir einen grossen Transport Thee nehmen, im Winter werden die Preise steigen und ihr könnt ein ungeheures Geld daran verdienen. Ich werde euch morgen einstweilen einige Kisten schicken. Gut? Nun gewiss, ich werde sie euch schicken!«
»Lieber Hans!« versetzte Sarkis. »Du weisst, wie gefährlich es ist einen neuen Handel anzufangen. Mit Thee habe ich niemals gehandelt und die Sache scheint mir ziemlich gewagt. Ich kenne keine Theeabnehmer und verstehe mich auch nicht auf diese Ware. Wenn sie mir dann liegen bleibt und verdirbt . . .«
»Aber was für leeres Stroh drischst du da?« rief der Hämorrhoidenhans. »Sobald nur die Leute erfahren, dass du Thee zu verkaufen hast, werden sie selbst in deinen Laden gelaufen kommen. Glaubst du denn, dass du sie zu suchen brauchst? In einer Woche oder in zwei wird auch keine Spur mehr von deinem Thee da sein. Ich spreche mit Geschäftskenntnis. In diesem Jahre hat man aus Sibirien sehr wenig Thee gebracht und der, den man gebracht hat, ist fast ganz in meine Hände gefallen. Glaube nicht, dass ich in dir einen Käufer suche! Behüte Gott! Als ich erfuhr, dass du ein so guter Mensch seiest, dachte ich bei mir, »dem muss ich etwas zu verdienen geben, ja, mag er ein paar Kopeken verdienen!« Glaubst du denn, dass es mir an Käufern fehlt? Nun, Sarkis, also morgen schicke ich dir die Ware, was?«
»Bei Gott, ich weiss nicht, was ich dir antworten soll, weisst du, ich fürchte mich,« entgegnete Sarkis.
»Weiter konnte der Arme nichts sagen, denn er war ein so braver, gutmütiger Kerl, dass es ihm schwer war Jemandem etwas abzuschlagen. Das Wort »nein« bestand für ihn gar nicht.
»Du sprichst Dummheiten!« begann der Hämorrhoidenhans von neuem. »Mach' deine Spezereibude zu und gründe einen Grosshandel, betreibe das Geschäft auf europäische Art und du wirst sehen, wie du mir mit der Zeit dankbar sein wirst. Glaubst du denn, ich sei dein Feind? Würde ich dir denn Schlimmes raten? Nun, die Sache ist abgemacht, morgen schicke ich dir einige Kisten Thee und die stelle in deinen Laden. Du weisst ja, dass dir der Hämorrhoidenhans nichts Böses wünscht. Ja, ich will dir noch etwas Besseres sagen. Du weisst was »Machorka« ist? Das ist ein gemeiner Tabak, den das niedere Volk raucht. Was meinst du von dieser Ware? Glaubst du, es gebe jetzt eine vorteilhaftere Ware als diese? Die Leute verdienen Tausende daran und bauen sich dafür grosse Häuser. Und was hat man da für Ausgaben? Stelle den Tabak in einen leeren Stall oder Schuppen und mag er da stehen. Eine Kiste davon stelle in deinen Laden und ich sage dir, wenn du dabei nicht einen Rubel am Rubel verdienst, spucke mir ins Gesicht! Im Frühjahre war viel von dieser Ware in den Händen eines Kosaken. Der dumme Kerl wusste nicht, was er damit anfangen sollte und brauchte Geld, dieser Gänserich! Ich brachte ihn zu mir nach Hause, liess Schnaps, Brod und Schinken bringen und nach einigem Hin- und Herreden kaufte ich von ihm vierhundert Kisten zum halben Preise. Die Hälfte zahlte ich bar, die andere Hälfte in achtzehn Monaten. Nun, war das nicht ein gutes Geschäft? Wenn ich nicht meine drei Tausend Rubel daran verdiene, will ich ein Narr heissen. Wenn du willst, schicke ich dir auch von dieser Ware etwas. Stelle sie in deinen Laden oder in deinen Schuppen und mag sie da liegen! Sie frisst und trinkt ja nichts. Du wirst sehen, wie die Preise steigen werden. Ja, ich sage dir, wenn du nicht hundert Prozent daran verdienst, da spucke mir ins Gesicht! Nun, soll ich dir einige Kisten davon schicken?«
»Bei Gott, ich kann nicht darauf eingehen,« erwiderte Sarkis. »Weisst du was? Ich fürchte mich einen neuen Handel anzufangen. Wenn dann die Ware nicht geht oder verdirbt, oder die Preise fallen, was soll ich da machen? Du weisst doch, dass unser Kapital nur aus ein paar Kopeken besteht. Was wir verdienen, verzehren wir auch. Wenn ich den Rubeln nachlaufe und dabei die Kopeken verliere, wer wird mir dann etwas zu essen geben?« schloss der arme Schlucker als ob er etwas Schlimmes geahnt hätte.
»Aber konnte sich denn einer von diesem Satan von Hämorrhoidenhans losmachen? Wie ein Blutegel hatte er sich an seinen Hals festgesaugt und verlangte von ihm seine Ware zu kaufen.
»Nun Sarkis?« fing er wieder an, »unsere Sache ist abgemacht. Ich schicke dir morgen Manufakturwaren, Thee und Tabak. Gut?«
»Ich werde noch sehen, ich muss mir das überlegen,« stotterte Sarkis. Er wollte ihn los werden, aber er wusste nicht wie er es anfangen sollte.
»Was soll das heissen: »Ich werde sehen!« was?« fuhr ihn jener an. »Magst du tausendmal sehen, so gute Ware und eine so günstige Gelegenheit findest du nicht wieder. Ich spreche mit Sachkenntnis. Ja, lass' dir diese Gelegenheit nicht entschlüpfen, sonst wirfst du mit eigenen Händen das Gold zum Fenster hinaus. Ich spreche von grossem Verdienst, von grossen Vorteilen, glaube nicht, dass das Scherze sind!«
»Wir werden sehen!« versetzte der arme Sarkis. »Wir haben ja noch manchen Tag vor uns. Ja, wir werden schon etwas machen!«
»Nun, was du machst, das ist nicht viel wert!« rief der Hämorrhoidenhans. »Ich sehe, dass wenn ich die Sache deinem Entschlusse überlasse, du in fünf Jahren noch keinen Entschluss gefasst haben wirst. Ist das nicht wahr? Morgen schicke ich dir eine Fuhre Waren, das übrige später.«
»Bei diesen Worten ergriff er seine Mütze, verabschiedete sich schnell und ging fort.
»Es war beinahe ein Uhr. Mairam und Takusch waren sitzend eingeschlafen und auch ich war sehr schläfrig, aber ich bekämpfte meinen Schlaf, um den Teufel von Härmorrhoidenhans zu bewachen. Der Mensch kann für den Menschen ein Priester sein, aber auch ein Satan.
»Als Jener schon auf der Strasse war, sagte Sarkis: »Was für ein sonderbares Gespräch wir heute geführt haben. Von allem, was dieser Mensch gesagt hat, habe ich nichts verstanden. Sein Gedanke ist nicht gerade übel, aber ich weiss nicht wie es kommt, mein Herz ahnt etwas Schlimmes.«
»Ich wollte ihm eben etwas darauf erwidern, als ich plötzlich niesen musste, aber nur einmal. »Siehst du jetzt,« sagte ich zu Sarkis, »siehst du, ich hatte Recht, dass er dich anführen will, jetzt hat es sich bewahrheitet!«
»Wenn man bei Tage nur einmal niest, so bedeutet das etwas Schlimmes, aber bei Nacht ist es sogar gut!« fiel mir Sarkis ins Wort.
»Ach,« sagte ich ihm, »du wirst mir doch nicht Lehren geben, du wirst mich nicht lehren, was das Niesen bedeutet. Ob es bei Tage oder bei Nacht ist, das bleibt sich gleich, einmal niesen bedeutet etwas Schlimmes und wenn man gerade etwas vorhatte, so soll man es unterlassen!«
»Sarkis wollte mir aber nicht Recht geben und fuhr fort zu plappern, dass in der Nacht einmal niesen gut sei. Ich sagte »nein« und er sagte »ja« und so ging es fort bis ich endlich aufstand. »Ach,« sagte ich, »mach' es wie du willst, aber wenn mit dir ein Unglück geschieht, da gieb mir dann keine Schuld!«
»Ich habe ja noch nichts angefangen,« meinte er, »das war ja nur ein Gespräch, wir haben nur etwas geplaudert. Ich habe übrigens gar keine Lust, mich mit seinem Tabak und seinem Thee herumzuschlagen.«
»Das sagte er zu mir, aber Gott weiss, vielleicht rechnete er in Gedanken schon die Tausende, die er zu verdienen glaubte. Ach, das Geld hat einmal so eine Kraft. Meine selige Grossmutter sagte immer, dass der Teufel das Geld erfunden habe. Er habe sich viel abgemüht um den Menschen zum Bösen zu verführen und da es ihm nicht gelang, erfand er endlich das Geld und wurde Herr unserer Seelen. Wieviel Menschen hat das Geld schon um den Verstand gebracht und Sarkis war doch gar nicht so ein fester Mensch, dass er so rosigen Hoffnungen hätte widerstehen können.
»Am andern Tage in der Frühe kam der Ladendiener eiligst ins Zimmer gelaufen und sagte, es ständen vor dem Thore neun Fuhren mit Waren; der Mann, der mit ihnen sei, frage nach Sarkis.
»Was ist das für ein Überfall?« rief Sarkis, »ich muss doch gehen und sehen, wer das ist. Vielleicht sind die Fuhren gar nicht für mich. Gott weiss für wen sie sind.«
»Er ging hinaus und wir ihm nach, denn obgleich ich die Fuhren noch nicht gesehen hatte, wusste ich schon, was die ganze Geschichte zu bedeuten hatte. Ehe wir noch am Thore angelangt waren, kam uns ein Mann entgegen und sagte: »Mein Herr lässt Euch grüssen und bittet Euch, diese neun Fuhren mit Waren in Empfang zu nehmen.«
»Wer ist denn dein Herr?« fragten wir alle zusammen.
»Der Hämorrhoidenhans. Kennt Ihr ihn denn nicht? Er war ja erst gestern Abend bei Euch.«
»Ich wäre beinahe vor Ärger geplatzt. »Ach du Kerl,« sagte ich, »wer hat deinem Herrn gesagt, Waren hierher zu schicken? Haben wir denn welche bestellt. Drehe gleich um und mach' dich aus dem Staube!«
»Geht denn das so?« sagte der Mann. »Nach abgemachter Sache kann man das Wort nicht zurücknehmen. Wo soll ich denn jetzt alle die Ware hinthun?«
»Wo du sie hergebracht hast, dorthin bringe sie zurück.« sagte ich.
»Jetzt ist die Remise geschlossen,« erwiderte er.
»Das geht uns nichts an, das ist Sache deines Herrn.«
»Wenn er hier wäre, würde ich es ihm sagen, aber er ist ja nicht da.«
»Wo ist er denn?« fragte ich.
»Er ist nach Taganrog gefahren.«
»Wann ist er abgereist?«
»Ungefähr vor zwei Stunden. Er kommt erst in zwei Monaten zurück, denn er hat dort sehr nötige Geschäfte bei Gericht.«
»Es war unzweifelhaft, dass dieser Schurke von Hans schon seine Streiche angefangen hatte, aber der einfältige Sarkis verstand seine teuflischen Absichten nicht. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich wäre gleich ins Stadthaus gelaufen, hätte dort alles haarklein erzählt und die Sache wäre gut abgelaufen. Sarkis war jedoch nicht der Mann dazu.
»Nun, wenn das so ist,« sagte er, »fahrt in den Hof und ladet ab. Die Ware kann doch nicht auf der Strasse bleiben. Wenn Hans aus Taganrog zurückkommt, werde ich mich schon auf irgend eine Weise mit ihm verständigen.«
»Die Wagen fuhren mit Knarren in den Hof, wo die Kutscher die Waren abluden und in der Remise aufschichteten. Ich stand wie versteinert da und schaute schweigend diesem Possenspiele zu. »Was wird nur daraus werden!« dachte ich bei mir.
»Ach, lieber hätte ich sterben mögen, als das zu sehen, was daraus geworden ist!
»Als die Waren abgeladen waren, forderte jener Handlungsdiener von Sarkis einen Empfangschein, den ihm dieser ohne Bedenken einhändigte, worauf der Handlungsdiener ganz zufrieden fort ging. Später erfuhren wir, dass Hans gar nicht nach Taganrog gefahren war und nur seinem Ladendiener so zu sagen befohlen hatte.
»Als wir an demselben Tage beim Mittagessen sassen, wandte sich Sarkis zu mir und sagte: »Siehst du, Hripsime, dein Niesen hat dich getäuscht. Hast du nicht gesagt, dass mir Hans einen Streich spielen wolle? Siehst du, es ist ganz anders gekommen! Schon heute Vormittag waren vier oder fünf Leute in meinem Laden, die Thee und Tabak kaufen wollten, denn sie hätten gehört, dass ich welchen bekommen habe. Ich sagte ihnen, dass die Sache noch nicht abgemacht sei und ich noch nicht über den Preis einig wäre, sobald aber ein Abschluss zu Stande käme, würde ich den Handel anfangen. Siehst du, ich habe noch nichts bekannt gemacht, dass ich mit solchen Waren handle und schon wissen es alle und ein Käufer kommt nach dem andern in den Laden. Wie wird es erst sein, wenn ich die Ware ausstelle! Da werden sie sich darum reissen. Jetzt wird es viel Arbeit geben. Ich muss nur zu Hans gehen und mit ihm die Sache abschliessen. Ja, Mütterchen, solch' ein Grosshandel ist nicht zu verachten. Der Grosshändler kann manchmal in einem Augenblicke mehr verdienen als der Kleinhändler in zwei Jahren. Ja, meine Liebe, im Geschäft ist's einmal so!«
»Gott gebe, dass es so sein möge!« sagte ich und weiter sprachen wir niemals mehr mit einander von Hans.
»So vergingen mehrere Monate und der November kam. Eines Abends, als wir gemütlich beisammen sassen und plauderten, ging leise die Thür auf und eine alte Frau trat ins Zimmer. Ich erkannte sofort, dass es eine Brautwerberin war. Nach drei Tagen wurde Takusch mit einem schlichten, mittelmässigen Manne verlobt. Die Hochzeit sollte im nächsten Winter, am Namenstage ihres Vaters stattfinden. An Mitgift versprachen ihr die Eltern drei Tausend Rubel und zwar 1500 Rubel bares Geld und 1500 Rubel in Kostbarkeiten.
»Takusch war damals fünfzehn Jahre alt, und obgleich ich schon zehn Jahre im Hause ihrer Eltern wohnte, hatte ich ihr doch noch niemals recht aufmerksam ins Gesicht geschaut und wusste eigentlich gar nicht, ob sie schön oder hässlich war. Als sie ihr aber am Verlobungstage ein seidenes Kleid anlegten und sie putzten, wie es sich bei solchen Festlichkeiten schickt, als sie ihr einen Sammetfez mit Goldquasten und einer Brillantenblume auf den Kopf setzten, da sperrte ich vor Bewunderung den Mund auf. Ich bin fast achtzig Jahre alt, aber ein so schönes Mädchen habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Ich glaube, ich bin auch keine Zwergin und doch war sie noch um einige Zoll grösser als ich. Ja, am Wuchs glich sie der Pinie, ihre Hände waren fein und zart und die Finger wie von Wachs, ihre Haare und Augenbrauen waren schwarz und das Gesicht weiss wie Schnee. Die Wangen strotzten von Rosenröte und der Blick ihrer Augen, ach, den kann ich bis heute noch nicht vergessen! Ja, glaube mir, ihr Blick war glänzender als ein echter holländischer Diamant. Ihre Wimpern waren so lang, dass sie einen Schatten auf die Wangen warfen. Nein, so ein reizendes Wesen wie sie habe ich nicht einmal im Traume, geschweige denn in der Wirklichkeit gesehen. Sie war – Gott verzeih' mir meine Sünde! – sie war das reine Bild der Mutter Gottes aus unserer Kirche, ja, sie war sogar noch schöner. Wenn ich sie anschaute, konnte ich die Augen gar nicht abwenden, ich schaute sie an und konnte mich gar nicht satt sehen. Am Verlobungstage sass ich in der Ecke des Zimmers und die Augen auf Takusch geheftet dachte ich: »Ach, wie thust du mir leid, dass du mit einem solchen Engelsgesicht die Frau eines gewöhnlichen Mannes werden sollst. Also auch du sollst eine Familienmutter werden und sollst in die schmutzige, verrauchte Küche gehen? Deine zarten Hände sollen so hart wie Leder werden vom Waschen, Plätten, Kneten und wer weiss noch welchen Hausarbeiten? Und deine Engelswangen sollen von der Ofenglut verwelken und deine Augen sollen ihren Diamantenglanz vom Nähen verlieren?« Ja, so dachte ich und das Herz blutete mir, denn dieses Mädchen sollte eine Königskrone tragen und in einem Palaste wohnen. Und wirklich, wenn das in alten Zeiten gewesen wäre, dieses Rosenmädchen hätte gewiss ein König oder ein Königssohn geheiratet. Und das arme Mädel stand da wie ein Lamm, denn sie verstand ja vom Leben noch nichts. Sie glaubte, Heiraten wäre soviel wie die Wohnung wechseln.
Ach, an jenem Abende that es mir leid, dass sie einen gewöhnlichen, aber doch ordentlichen und jungen Mann heiraten sollte und doch wäre das noch ein grosses Glück für sie gewesen, wenn sich das verwirklicht hätte. Wer hätte damals gedacht, dass der Armen noch viel grösseres Unglück bevorstand. Und an allem diesen war der verfluchte Hämorrhoidenhans schuld.
»Jener Verlobungstag war der letzte Freudentag für die armen Schlucker. Dann habe ich nie mehr ein Lächeln auf ihren Gesichtern gesehen, denn mit jedem Tage verschlimmerten sich ihre Verhältnisse und das Geschäft ging immer schlechter. Sie verloren Haus und Hof, schleppten sich mehrere Monate hindurch aus einer Mietwohnung in die andere, bis sie endlich ganz aus der Stadt verschwanden.
»Am Tage nach der Verlobung schickte der Hämorrhoidenhans seinen Ladendiener zu Sarkis und liess ihm sagen, er solle die 2700 Rubel für den Tabak und Thee und 184 Rubel für die Manufakturwaren bezahlen. (Ich habe dir zu sagen vergessen, dass sich unter den letzteren aus der Mode gekommene Kleidungsstücke und verschossenes Tuch, Leinwand, Sammet und etwas Seide befand.) Dabei liess er ihm sagen, dass, wenn er ihm die 184 Rubel nicht bezahlen wolle, er dafür den Ring und die Uhr behalten würde.
»Der arme Sarkis war ganz verblüfft.
»Habe ich denn die Waren gekauft?« fragte er.
»Gewiss habt Ihr sie gekauft!« antwortete der gewissenlose Ladendiener. »Sonst hättet Ihr ja nicht davon eine Kiste Thee und einen Ballen Tabak verkauft. Auch der Rock von Eurem Jungen da ist von unserem Tuche gemacht.«
»Das war richtig. Sarkis hatte am dritten Tage nach Empfang der Waren eine Kiste Thee und einen Ballen Tabak verkauft und auch mehrere Ellen Tuch abgeschnitten. Dabei war es sonderbar, dass Sarkis im Laufe von drei Monaten nicht ein einziges Mal den Hämorrhoidenhans von Angesicht sehen konnte, um ihn über die Warensendung zur Rede zu stellen. Mehrere Male war er in seinem Hause gewesen und immer hatte man ihm gesagt, Hans wäre in seinem Laden. Wenn er dann dorthin kam, sagte man ihm wieder, er wäre zu Hause. Es war also klar, dass ihm Hans einen Streich spielen wollte. Nach vielem Hin- und Herreden kam endlich die Sache vor Gericht und da Sarkis einen Teil der Ware verkauft und Hans einen Empfangschein in den Händen hatte, musste Sarkis die geforderte Summe bezahlen. Dem armen Schlucker war schon seit mehreren Monaten der Handel sehr schlecht gegangen, so dass er nun die geforderte Summe nicht aufbringen konnte und mit seinem Eigentum dafür einstehen musste. Zuerst jagte man den Armen aus seinem eigenen Hause und versiegelte seinen Laden und sein Warenlager. Dann verkaufte man den Tabak und den Thee, wofür niemand mehr als fünfzig Rubel geben wollte, denn beides war halb verfault. Dann wurde auch der Laden mit allem was darin war, für ein paar hundert Rubel versteigert und zuletzt das Haus feil geboten, welches jedoch niemand kaufen wollte, denn unter unserem Volke herrscht die lobenswerte Sitte, dass man nie ein zur Versteigerung bestimmtes Haus kauft, bevor man sich nicht überzeugt hat, dass der Eigentümer das Haus aus freien Stücken veräussert. Auch die Hauseinrichtung wurde verkauft und so ward Sarkis fast zum Bettler und musste halb nackt mit Weib und Kind sein Haus verlassen.
»Ich schlug ihm vor, mein Haus zu beziehen, aber er wollte nicht. »Von heute ab ist die schwarze Erde meine Wohnstätte,« sagte er und mietete sich ein kleines Häuschen am Ende der Stadt, dort wo die Felder anfangen.
»Als die Nachbarn die Nichtswürdigkeiten des Hämorrhoidenhans erfuhren, wurden sie schrecklich böse und einer warf auf seinen Hof einen Zettel, auf welchem geschrieben stand, dass, wenn er sich unterstände, sich des armen Sarkis Haus anzueignen, man dasselbe abbrennen oder niederreissen würde.
»Hans hatte das nur gewollt und sofort liess er Zimmerleute kommen, Haus, Stall und Scheuer einreissen und verkaufte das Holz. Um diese Zeit erkrankte ich und lag zwei Monate im Bette. Als ich dann wieder aufstand, dachte ich bei mir: Ich muss doch hingehen und die armen Schlucker besuchen. Ich kam an ihr Häuschen, fand aber die Thür verschlossen und die Fensterladen verrammelt. Ich fragte einen Knaben: »Mein Kind, weisst du nicht, wo die Leute aus diesem Hause sind?« – »Vor zwei Wochen haben sie sich auf einen Plauwagen gesetzt und sind fortgefahren,« antwortete der Junge. »Wohin sind sie gefahren?« fragte ich. »Das weiss ich nicht,« sagte er. Ich wollte es wirklich nicht glauben, aber da begegnete mir auf der Strasse eine Alte und die sagte mir dasselbe. »Sie haben sich alle auf einen Plauwagen gesetzt und sind in ein russisches Dorf gezogen,« sagte sie. Wie das Dorf heisse, konnte sie mir nicht sagen und so war jede Spur von ihnen verschwunden.
»Erst nach vielen Jahren kam ein Herr aus Stawropol in unsere Stadt und der konnte mir einige Nachrichten über die armen Schlucker geben. Sie hätten sich, sagte er, in einer Kosakenstanitze niedergelassen – er nannte mir auch den Namen, aber ich habe ihn vergessen –, dort hätten sie anfangs viel Not gelitten und als es ihnen gerade besser zu gehen anfing, starben Mairam und Sarkis an der Cholera und Toros und Takusch blieben allein. Um diese Zeit sah Takusch einen russischen Offizier, dem sie sehr gefiel und nach mehreren Monaten verheiratete sie sich mit ihm. Toros führte anfangs das Geschäft des Vaters fort, aber dann gab er es auf und trat in ein Regiment ein. Soviel erfuhr ich von dem Herrn aus Stawropol.
»Einige Zeit später begegnete ich wieder einem, der Takusch kannte. Er erzählte mir, dass sie jetzt Wittwe sei. Ihr Mann wäre ein Trunkenbold gewesen, der ganze Nächte im Wirtshause zubrachte und die arme Frau oft schlug und sehr roh behandelte. Einmal hätten ihn die Leute tot nach Hause gebracht. Toros habe beim Pferderennen den Hals gebrochen und sei daran gestorben. Von Takusch erzählte er mir noch, dass sie die armenische Sprache fast ganz vergessen und den Glauben gewechselt habe.
»Das ist die Geschichte dieses verödeten Hofes.«
Während des Winters des Jahres 185. herrschte in Petersburg eine solche Kälte, dass sich selbst die ältesten Bewohner dieser Stadt keiner ähnlichen erinnerten. Vom Froste war der Schnee so hart und fest geworden, dass er unter den Füssen der Fussgänger knisterte und der Hauch der Menschen war so nebeldicht, dass man oft auf zwei Schritte weit nichts sehen konnte. Niemand wagte es, ein Glied seines Körpers zu entblössen, denn Finger, Nase und Ohren erstarrten in ein paar Minuten, wenn sie nicht gehörig eingehüllt waren. Wer zu Fuss ging, ging nicht gewöhnlichen Schrittes, sondern lief aus allen Kräften, um seine Füsse vor dem Erfrieren zu bewahren.
Es war das in jenem unheilvollen Winter, da die Bräune und die Cholera ein Bündnis geschlossen zu haben schienen und unter der von Schrecken ergriffenen Bevölkerung die fürchterlichsten Verheerungen anrichteten. Hätte jemand die Geduld gehabt, vom Morgen bis zum Abend auf der die Stadt mit der Wassili-Insel verbindenden Brücke zu stehen, der hätte hier wohl an hundert Begräbniszüge von Verstorbenen der verschiedensten Stände aufgezählt. Besonders gross war jedoch die Zahl der Armen, die in diesem Winter starben.
Ich war erst vor zwei Monaten nach Petersburg gekommen und wie Äsops Grille hatte ich mich für den Winter in keiner Weise versorgt. Ein leichter nicht gefütterter Tuchmantel und die alte Studentenuniform waren die einzigen Schutzhüllen meines gegen die Kälte sehr empfindlichen Körpers. Dabei war ich ganz fremd in der fremden Stadt, denn ausser einigen armen armenischen Studenten kannte ich niemand und machte auch keine Bekanntschaften. Übrigens wäre es mir auch nie eingefallen, mein Zimmer zu verlassen, wenn es in demselben nicht fast kälter gewesen wäre als draussen. Meine Wohnung, die ausser mir noch ein anderer Armenier, namens Johannes, ein Schüler der Kunstakademie, inne hatte, wäre selbst für einen echten Nordländer eine keineswegs einladende Herberge gewesen. Der Ofen wurde allerdings täglich ziemlich stark geheizt, aber von allen vier Seiten pfiff durch die Wände sowie auch durch die Diele der Wind herein, dazu war auch das Fenster in schlechtem Zustande, so dass also durch keinerlei Heizung ein solcher Schuppen zu erwärmen war. Doch was sollten wir machen! Weder ich noch mein Kollege hatten die Mittel eine bessere Wohnung zu mieten und die, welche wir inne hatten, war uns unentgeltlich von einem menschenfreundlichen Manne abgetreten worden. Vielleicht dachte er bei sich: »Sie sind arm, diese Armenier . . . die Wohnung steht leer . . . mögen sie in Gottes Namen darin wohnen!« In der Not frisst der Teufel Fliegen! Ja, wir bewohnten diese Eiskammer, aber Gott weiss wie! In jenem Winter habe ich mir auch den Husten geholt, der bis jetzt meine Brust erschüttert.
Der Frost währte in jenem Jahre unaufhörlich vier Monate lang und so herrschte auch an dem Tage, von welchem ich meine Erzählung beginne, eine fürchterliche Kälte.
Es war gegen elf Uhr Vormittag, als ich von meinem Freunde Gabriel A. kommend, nach Hause eilte. An der neuen Brücke angelangt, konnte ich nicht mehr weiter kommen, ein reicher Leichenzug versperrte mir den Weg. Die Wagen und Fussgänger waren so zahlreich, dass ich eine halbe Stunde hätte auf das Ende des Zuges warten müssen. Ich ging also auf die Brücke und auf der Mitte derselben erreichte ich wieder einen Leichenwagen, auf welchem allem Anscheine nach ein Armer zur ewigen Ruhe gefahren wurde, denn ausser zwei alten Frauen und einem jungen Mädchen folgte ihm niemand. Die beiden Frauen sprachen ziemlich lebhaft mit einander und zwar wie es schien, von ihrem täglichen Leben, denn soviel ich bemerkte, folgten sie der Leiche ohne das geringste Beileid und schienen nur eine unfreiwillig übernommene Pflicht zu erfüllen.
Einen ganz andern Eindruck machte das junge Mädchen, welches heisse Thränen vergoss. Zwar stöhnte sie nicht, auch raufte sie sich nicht die Haare und noch weniger rief sie Himmel und Erde um Mitleid an, aber in ihrem trüben, trostlosen Gesichte, in ihren entzündeten Augen lag der Ausdruck ihres inneren Kampfes, ihres das Herz zerreissenden Schmerzes. Ich weiss nicht, warum mich dieses Bild so an sich fesselte, denn da ich in der Nähe des Smolenskischen Friedhofes wohnte und täglich hunderte solcher Trauerzüge sehen konnte, war ich ja schon an ihren Anblick gewöhnt. Aber diesmal flüsterte mir eine innere Stimme zu: Folge diesem Leichenwagen! Habe Mitleid, zwar nicht mit dem Verstorbenen, der desselben nicht mehr bedarf, aber mit dieser vereinsamten Waise, die vielleicht ihre letzte Lebensstütze zu Grabe geleitet!
Ich weiss selbst nicht, ob es ein religiöses Gefühl oder die Anwesenheit des jungen Mädchens war, die mich zum Mitgehen bewog, und so folgte ich dem armen Leichenzuge, ohne mir selbst darüber Rechenschaft abzulegen. Weder das Mädchen noch die beiden Frauen beachteten mich und alle schienen mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein.
Von Zeit zu Zeit warf ich einen versteckten Blick auf das Mädchen und bemerkte, dass sie schön und von hoher Gestalt war. Ihre Taille war schlank, ihre Gesichtszüge edel und ausdrucksvoll, die Haare dunkel und die schwarzen Augen von schön gebogenen Brauen umrahmt. Ihr Gang war sicher und würdevoll und obgleich ich an ihrer Kleidung sah, dass sie die Tochter armer Eltern war, so erkannte ich doch wieder an ihren Gesichtszügen, dass sie einer vornehmen Familie angehören müsse. Hierin lag für mich ein Geheimnis, welches ich vergeblich zu erraten mich bemühte. Doch die innere Stimme, welche oft in schwierigen Umständen prophetisch zu mir spricht, flüsterte mir zu: Dein Schicksal ist entschieden! Ob mir das neue Schicksal Glück oder Unglück bringen sollte, konnte ich natürlich in jenem Augenblicke noch nicht wissen.
So gelangten wir alle vier schweigend und betrübt an die Stelle der Strasse, wo sich diese in drei verschiedene Wege zerzweigt, von denen einer auf den russischen, der andere auf den armenischen und der dritte auf den evangelischen Friedhof führt. Der Kutscher, dem man wahrscheinlich nichts gesagt hatte, fuhr auf den russischen Friedhof zu.
»Ich glaube, die Verstorbene war keine Russin,« bemerkte eine der alten Frauen zur andern.
»An ihrer Aussprache sah man, dass sie eine Deutsche war. Warum fährt also der Kutscher auf den russischen Friedhof?«
»Ich weiss nicht,« entgegnete die andere, »vielleicht war sie nach unserem Glauben getauft. Doch, es ist besser, das Mädchen zu fragen. Du Mädchen, höre, zu welcher Kirche bekennst du dich?«
Das Mädchen, welches in seine trüben Gedanken vertieft war, achtete nicht auf das, was um sie her vorging.
Die Alte wiederholte also ihre Frage und mit der dem niederen russischen Volke eigenen Grobheit zerrte sie sie am Ärmel und sagte: »Der Teufel weiss, was das für ein dummes Volk ist, diese Deutschen; ich spreche laut und deutlich auf russisch zu ihr und sie versteht mich nicht!«
Das Mädchen blickte erstaunt auf sie ohne etwas zu erwidern. Ich begriff nun sogleich, dass sie nicht russisch spreche und redete sie auf französisch an:
»Mademoiselle, ces dames ignorent la religion de la defunte et elles sont dans un grand embarras.«
»Ma mère était lutherienne,« sagte sie und versank wieder in ihren vorigen Trübsinn.
Ich befahl sofort dem Kutscher umzukehren und auf den deutschen Kirchhof zu fahren, von welchem wir bereits eine Strecke entfernt waren.
Ich weiss nicht, ob der Kutscher betrunken war, ob die Achsen des Wagens krumm waren oder die Pferde scheu wurden, nur soviel weiss ich, dass beim Umdrehen der Sarg zu schwanken begann und gewiss herunter gefallen wäre, wenn ich nicht schnell herbei gesprungen wäre. Ich stemmte meine rechte Achsel gegen den Leichenwagen, hielt mit der Hand den Sarg fest und verblieb in dieser Stellung, bis der Wagen wieder in gerader Richtung weiter fuhr. Doch was bemerkte ich, als die Gefahr vorüber war und wir den Friedhof betraten! Auf meinem Mantel waren Bluttropfen. Ich musste mir wahrscheinlich beim Halten des Sarges an einem Stücke Eisen oder Nagel die Hand verletzt haben, denn auf derselben bemerkte ich eine breite Wunde.
»Mein Gott, Sie sind verwundet!« rief das Fräulein.
»Ich habe mich nur etwas geritzt,« antwortete ich vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, denn von der kalten Luft fing die Wunde so zu brennen an, dass mir der Schmerz durch Mark und Bein ging. Ich griff in die Tasche, um mein Taschentuch heraus zu nehmen und die Wunde zu verbinden, aber o weh! ich hatte es bei Gabriel gelassen!
Das Mädchen verstand, was ich wollte.
Errötend zog sie ihr Battisttuch aus der Tasche, reichte es mir hin und ohne meinen Dank abzuwarten, eilte sie nach der Stelle hin, wo der Leichenwagen stehen geblieben war. Alles das geschah so schnell, dass die beiden Frauen ihre Abwesenheit gar nicht bemerkt hatten, denn als sie aufschauten, war das Mädchen schon wieder bei ihnen. Bei dem Verbinden der Hand bemerkte ich auf dem Taschentuche die mit rotem Zwirn eingenähten Buchstaben M. W., was einen mächtigen Eindruck auf mich machte, denn die Buchstaben waren auch die Anfangsbuchstaben meines Namens. Wollte der blinde Zufall mit mir scherzen oder wollte mich die Vorsehung auf unsichtbaren Wegen mit ihr zusammenführen?
Wie sollte ich mir unser Zusammentreffen auf der Brücke erklären? Dann das Mitgefühl mit diesem Mädchen, das in jedem andern Falle, ohne den geringsten Eindruck auf mich zu machen, an mir vorüber gegangen wäre, meine ritterliche Aufopferung, als ich den Sarg aufhielt, die Zeichen auf dem Taschentuche dieses wunderschönen Mädchens, alles dies kam mir sonderlich vor. Mehrere Male schaute ich die Zeichen an und traute kaum meinen Augen, denn alles, was um mich her vorging, schien mir ein Traum zu sein.
Doch nein, alles war wie vordem, ich stand auf dem lutherischen Friedhofe, nicht weit von mir der Leichenwagen mit dem Sarge, dann das schöne Mädchen mit ihrem betrübten Antlitze, meine Hand war verwundet und mein Körper zitterte vor Kälte.
Ich wollte mich schon dem Mädchen nähern und sie um Aufklärung dieses sonderbaren Zusammentreffens bitten, doch ich wurde plötzlich nüchtern und gestand mir selbst ein, dass es höchst unschicklich gewesen wäre, in einem so feierlich-traurigen Augenblicke meine unstatthafte und thörichte Neugier befriedigen zu wollen.
Als ich mich den Frauen näherte, waren sie ziemlich aufgeregt und in Verlegenheit, denn es war niemand da, der beim Herunterheben des Sarges Hülfe geleistet hätte und obgleich der Kirchhof voll von Leuten war, so waren doch alle nur mit sich selbst beschäftigt. Nicht ein einziger der Anwesenden zeigte sich bereit, der verlassenen Toten einen letzten Dienst zu erweisen. Das Mädchen warf ängstliche Blicke umher, die leicht zu verstehen waren. Ich bat daher den Kutscher, den Sarg an dem einen Ende zu halten, während ich das andere ergriff und so hoben wir ihn vom Wagen auf den Boden herunter. Übrigens war der Sarg so leicht, dass ich ihn auch ohne Hülfe des Kutschers herunter gehoben hätte. Die Arme ist gewiss an der Schwindsucht gestorben! dachte ich bei mir. Hierauf trugen wir den Sarg an ein frisch gegrabenes Grab. An jenem Tage beerdigte man auf dem lutherischen Friedhofe mehr als zehn Leichen und es war daher nicht zu verwundern, dass die unsrige niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Ich ging zum Pastor und bat ihn, doch auf das arme Mädchen Rücksicht zu nehmen und ihrer verstorbenen Mutter den kirchlichen Segen zu erteilen.
»Aber zu wem von euch soll ich denn zuerst kommen?« antwortete mir der Pastor ungeduldig und barsch, als ob ihn die Armut des Mädchens dazu erdreistet hätte. »Wartet ein wenig oder wenn ihr nicht wollet, so bestattet die Leiche ohne mich! Ich werde dann hinkommen und ein Gebet für sie sprechen. Ihr seht ja, dass ich keine Zeit habe.«
Ziemlich entrüstet über das Benehmen des Pastors ging ich zu dem Mädchen zurück und wiederholte ihr dessen Worte.
»Machen Sie es wie Sie glauben,« antwortete sie mir.
Während dieser Zeit gingen die Frauen ungeduldig auf dem Friedhofe hin und her und dachten gar nicht daran, uns Hülfe zu leisten, ja, die unzusammenhängenden Worte, die sie aussprachen, schienen mir eher Flüche als ein Gebet zu sein. Ich selbst war nicht mehr im Stande, mich länger zu geduldigen, mein Herz empfand ein reges Wehgefühl, meine Augen wurden feucht und meine Stimme begann zu zittern, denn nur ein ganz gefühlloser Mensch hätte in so einem traurigen Augenblicke gleichgültig bleiben können. Die arme von allen verlassene Tote, die vielleicht in der Fremde, weit von den Ihrigen entschlafen und nun in der Begräbnisstunde diesen beiden herzlosen Weibern überantwortet war; die arme, betrübte Waise, die regungslos vor Schmerz am Sarge ihrer Mutter stand, um die sich auch niemand in der Welt kümmerte, die in leichter, dürftiger Kleidung vor Kälte zitterte – o, dieses Bild war herzzerreissend! Ich konnte es nicht ertragen und musste Rat schaffen.
»Fräulein!« sagte ich zu dem Mädchen, »sprechen Sie für Ihre Mutter ein letztes Gebet, denn es ist schon Zeit, sie zu bestatten!«
Die Unglückliche schien wie aus einem tiefen Schlummer zu erwachen und warf einen irrenden Blick auf mich.
»Was sagen Sie?« stammelte sie, ohne mich zu erkennen.
Ich wiederholte ihr meine Worte und wies mit der Hand auf den Sarg ihrer Mutter hin.
»Ist es denn wahr, dass meine Mutter gestorben ist?« sagte sie mit bebender Stimme, sank auf den Sarg nieder, umfing ihn mit ihren Armen und schien die Besinnung zu verlieren.
Die beiden Weiber schauten wie vordem teilnahmslos auf dieses erschütternde Schauspiel und brachten nicht ein einziges Wort des Mitleids hervor. Mehrere Minuten verblieb das Mädchen in derselben Lage und ich fing schon an, mich um sie zu beunruhigen, doch plötzlich fasste ich Mut, näherte mich ihr und brachte sie endlich durch Worte des Trostes und Beileids zum Bewusstsein zurück.
Ohne das geringste Sträuben stützte sie sich auf meinen Arm und stand auf. Auf ihrem Gesichte war die vorherige Verzweiflung nicht mehr sichtbar und sie schien beruhigt zu sein.
Zu meinem Glücke war das Grab nicht tief. Ich stieg also hinein und bat den Kutscher, mir beim Hineinsenken des Sarges behülflich zu sein. Von der Kälte waren meine Hände so erstarrt, dass, als ich den Sarg ergriff, dieser mir beinahe aus den Händen gerutscht wäre. Trotzdem ging unsere Arbeit dieses Mal leichter von statten als beim Herunterheben vom Wagen.
Als wir endlich den Sarg ins Grab gesenkt hatten, stieg ich heraus, füllte meinen Hut mit Erde und reichte ihn dem Mädchen dar, indem ich es bat, der frommen Sitte gemäss eine Hand voll Erde auf den Sarg der Mutter zu streuen. Sie zog den Handschuh herunter und streute drei Mal einige Erdkrumen auf den Sarg.
»Auf Wiedersehen, meine gute Mutter!« sagte sie dabei mit kaum vernehmbarer Stimme, sank auf die Kniee und den Kopf zur Erde beugend, betete sie.
Der Wind, welcher den ganzen Tag über geweht hatte, wurde in diesem Augenblicke so stark, dass er die hundertjährigen Tannen wie schwache Bäumchen hin und her bewegte. Ihre grünen Kronen fingen an zu brausen und überschütteten das auf der Erde knieende Mädchen mit Nadeln. O, ich wäre glücklicher gewesen, wenn ich damals zugleich die beiden Unglücklichen, von denen die eine tot, die andere halbtot war, beerdigt hätte!
Der Leser wird mir gewiss diesen Wunsch sehr übel nehmen, denn er hat ja schon meine aufkeimende Liebe zu diesem Mädchen bemerkt. Ja, aber mag er meine Rechtfertigung anhören! Da ich das Mädchen nicht aus den Augen liess und jede seiner Bewegungen beobachtete, hatte ich auf seinem Finger einen goldenen Ring, das deutliche Zeichen seiner Verlobung bemerkt. Ich weiss nun nicht warum, aber wenn in jenem Augenblicke das Mädchen plötzlich gestorben wäre, hätte ich mich für den glücklichsten Menschen auf der Welt gehalten. Mein Beileid erschwachte plötzlich, Eifersucht beschlich mein Herz. Vor einigen Augenblicken hatte ich noch geglaubt, ich sei ihr einziger Beschützer auf Erden, aber dieser Ring sagte mir, dass es einen andern gebe, der mehr Recht zu ihrer Neigung habe als ich. »Vielleicht,« dachte ich bei mir selbst, »schwört sie jetzt am Grabe ihrer Mutter dem Auserwählten ihres Herzens ewige Treue!« Mit so unbegründeten Befürchtungen beunruhigte ich meine Seele in diesem feierlich traurigen Augenblicke!
Das Mädchen stand endlich auf, wischte sich mit dem Ärmel die Thränen ab und das Haupt senkend, schaute sie noch lange auf den mit Schnee bedeckten Sarg der Mutter, mit der sie sich in Gedanken zu verabschieden schien. Als ich ihr ins Gesicht blickte, schwand meine Verdächtigung vollständig.
»Wenn sie liebt,« dachte ich bei mir, »wo ist denn da der Gegenstand ihrer Liebe? Warum hat sie der Geliebte der Willkür des Schicksals und der Obhut dieser zwei Hexen überlassen? Warum versorgt er sie bei so rauhem Wetter nicht mit wärmerer Kleidung?«
Diese Gedanken beruhigten meine aufgeregte Phantasie und mit neuer Energie machte ich mich an die Bestattung der Leiche. Nahe am Grabe lag ein Spaten und eine Hacke. Die Hacke ergriff ich, gab dem Kutscher den Spaten und so begannen wir das Grab mit Erde zu füllen. Unsere Arbeit dauerte ungefähr eine halbe Stunde und als wir sie beendigt hatten, waren die beiden Weiber, ohne auf die Ankunft des Pastors zu warten, schon fortgegangen. Auch der Kutscher setzte nun seine Mütze auf und fuhr zurück, so dass ich und das Mädchen allein blieben.
Endlich kam der Pastor und las aus einem Büchlein verschiedene Gebete vor, worauf er uns, nämlich ihr und mir, eine kleine Trostrede hielt, in welcher er darlegte, dass der Tot unser aller harret, dass nur die Kleinmütigen ihn fürchten u. s. w. Mit der Überzeugung, das Mädchen getröstet zu haben, ging er dann, mit sich selbst zufrieden, fort, um am Grabe anderer Verstorbenen dasselbe zu wiederholen.
Der Wind wehte stark, fegte den frischen Schnee auf und in den Wipfeln der Nadelbäume brausend, sang er tausend unheimliche Weisen, die so ganz der Trauer des Augenblicks entsprachen.
Es war schon gegen drei Uhr Nachmittag und mir mangelte fast die Kraft, die Kälte noch länger zu ertragen.
»Fräulein!« begann ich daher zu dem Mädchen, »hier werden Sie für Ihren Schmerz keine Linderung mehr finden und schliesslich müssen Sie ja auch an sich denken. Die Luft ist eisigkalt und Ihre Kleidung gewährt Ihnen wenig Schutz gegen dieselbe . . .«
Ich weiss nicht, was ich noch sonst zu ihr sagte und fand sogar, dass meine Worte unstatthaft waren.
»Jetzt werde ich das Haus nicht finden können, in welchem ich wohne,« erwiderte sie mit niedergeschlagenen Augen, »meine Wirtin hat mich allein hier gelassen und nicht daran gedacht, dass mir Petersburg ganz unbekannt ist. Ich bin kaum einen Monat hier.«
»Und wissen Sie wenigstens, auf welcher Strasse sich das Haus befindet?«
»Nein!«
»Haben Sie hier Verwandte oder Bekannte ?«
»Nein!«
Was sollte ich thuen? Wo sollte ich sie hinführen? Wessen Schutze sollte ich diese unglückliche Waise anvertrauen, um sie vor der Verderbnis zu bewahren?
Wie ich oben erwähnte, befand sich meine Wohnung in der Nähe des Smolenskischen Friedhofes, also nicht weit von dem Orte, wo wir eben waren.
»Gehen wir!« sagte ich zu ihr, »vielleicht finden wir mit Gottes Hülfe einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage.«
Mit echt studentischer Höflichkeit bot ich ihr meinen Arm an, bat sie, so schnell als möglich zu gehen und führte sie zu meinem Hause. An der Hausthür angelangt, bat ich sie, etwas zu warten, da ich sofort wieder herunter kommen würde.
Ich ging ins Zimmer, wo mein Kollege auf dem Bette liegend damit beschäftigt war, auf die Zimmerdecke zu spucken.
»Was machst du da, Johannes?« sagte ich, über seine sonderbare Beschäftigung lachend.
»Nichts, seit einer Stunde bemühe ich mich diesen Schwaben da oben durch Spucken herunter zu bringen.«
»Nun, unterbreche für einen Augenblick diese Jagd, denn ich habe dir etwas zu sagen.«
»Sprich, sprich!« sagte er, sich von neuem an seine Beschäftigung machend.
»Hast du nicht zwanzig Kopeken?« fragte ich, obgleich ich schon im voraus wusste, dass ich eine verneinende Antwort erhalten würde.
»Von was für zwanzig Kopeken sprichst du da?« erwiderte Johannes erstaunt, »ich dachte, dass du wenigstens sechs Kopeken mitbringst, drei für eine Kerze und drei für zwei Pfund Brod. Weisst du denn nicht, dass von dem gestrigen Brode nur ein kleines Stück geblieben ist, das ich heute beim Thee verzehrt habe? Seit elf Uhr habe ich nichts im Munde gehabt und harrte deiner Ankunft wie die Juden der Ankunft des Messias. Vor zwei Stunden habe ich die letzte Cigarette geraucht.«
Ich schaute mich im Zimmer um, aber ausser einigen Büchern und Heften war nichts da; dann blickte ich auf mich und o Wunder! wie ein Verrückter lief ich aus dem Zimmer hinaus.
»Michael, warte, höre doch!« rief mir Johannes nach, aber ich wartete nicht, und als ich schon draussen war, drangen noch seine flehenden Worte an mein Ohr, die ungefähr folgendes enthielten: Verschaffe ein Licht, Brod und Tabak! Es sind das die bescheidenen Bedürfnisse eines Studenten.
Aber ich blieb taub und mein Herz seinen Bitten verschlossen, denn ganz andere mir bis dahin noch unbekannte Sorgen erstanden für mich in jenem Augenblicke. Wenn mir gesagt worden wäre, dass auf dem Grunde der tiefen Newa ein Rubel liege, ich wäre hinunter gesprungen, um ihn heraus zu holen.
Gewiss wird der Leser fragen, warum ich so wie ein Rasender aus dem Zimmer lief und welche Aussicht ich hatte, meinen Kummer zu beseitigen! Nun, das will ich in kurzen Worten erklären.
Als ich von Gabriel wegging, hatte ich aus Versehen anstatt meiner alten Gummischuhe die seinigen, welche völlig neu waren, angelegt und als im Zimmer meine Blicke auf dieselben fielen, kam mir ein genialer Gedanke ein. Der Leser wird jetzt meine Absicht durchschauen, wenn nicht, so will ich darüber eine kurze Erklärung abgeben. In Petersburg ist unter den Studenten und ihnen ähnlichen armen Schluckern die Sitte des Verpfändens sehr verbreitet. Man bemerkt z. B. bei seinem Freunde eine Uhr, einen Ring, eine Busennadel u. s. w. und eines schönen Tages sieht man ihn ohne diese Sachen, wobei man stets auf die Frage, wo er diesen oder jenen Gegenstand hingethan habe, die Antwort erhält: »Ich habe ihn in die Lehre gegeben!« Jetzt weiss nun der Leser, dass ich, da ich keinen Rubel in der Tasche hatte, gleichfalls meine Gummischuhe in die Lehre geben, nämlich bei einem Juden versetzen wollte.
»Fahren wir!« sagte ich zu dem Mädchen, »mit Gottes Hülfe wird alles gehen!«
»Ich bin Ihnen unaussprechlich dankbar, womit habe ich denn Ihren Grossmut verdient?« sagte sie mit so süsser Stimme, dass ich völlig die Qualen vergass, die ich während der vier Stunden auf dem Friedhofe ausgestanden hatte. »Schlitten vor!« rief ich so befehlerisch, wie vielleicht der reichste Mensch auf Erden nicht rufen würde.
In demselben Augenblicke sausten vier oder fünf Schlitten herbei, jeder Kutscher tadelte die Pferde des andern und pries die Schnelligkeit der seinigen.
Ich stand schon mit einem Fusse in einem der Schlitten, als ich hinter mir eine bekannte Stimme vernahm.
»Michael, wohin fährst du? Schon so lange rufe ich und du hörst es nicht. Was ist denn mit dir geschehen, dass du so stolz geworden bist? Wo hast du denn dieses Täubchen aufgefangen?«
»Ach, Alexander, das bist du!«
»Nun, ich muss dir die Wahrheit sagen, Bruder! Du hast gute Beute gemacht.«
»Ich bitte dich, lass' diese Reden! Ich habe dich um etwas zu fragen.«
»Befehle, mein Lieber!«
»Sage mir, wo wohnt jener Jude, der Geld auf Pfänder leiht?«
»Solltest du es wirklich vergessen haben? Auf der grossen Mieschtschanskaja, im Hause Glasunow. Der Haushälter wird es dir schon zeigen. Was willst du denn versetzen?«
»Meine Gummischuhe.«
»Wozu brauchst du sie denn so weit zu tragen? Siehst du diese Bierhalle dort? Der Wirt ist mein Bekannter. Wenn du willst, trage ich sie hin und versetze sie. Wieviel brauchst du?«
»Je mehr, desto besser,« antwortete ich, zog die Gummischuhe von den Füssen und gab sie ihm.
»Das sind ja ganz neue Schuhe, wer weiss, vielleicht giebt er dir zwei Rubel . . . Was sagst du dazu?«
»Gut, gut, nur schnell, mein Lieber, denn ich habe keine Zeit zum Warten.«
»Wohin fährst du denn mit diesem Täubchen?« sagte er mit den Augen blinzelnd.
Seine aufdringliche, unbescheidene Frage war mir geradezu widerwärtig und besonders die unbegründete Verdächtigung, die dabei auf das arme Mädchen fiel.
»Mach' dich fort, klügele nicht viel! Willst du mir einen Dienst erweisen, so erweise ihn, und wenn nicht, so scher' dich zum Teufel! Ich werde mir auch ohne dich Rat schaffen.«
»Was bist du so böse? Darf man denn mit dir nicht scherzen? Es ist ja eine Russin, die unsere Sprache nicht versteht. Was ärgerst du dich also?«
Ich unterbrach seine Rede, indem ich ihn ziemlich unsanft am Arme in der Richtung nach der Bierhalle hinstiess.
Während er dort mit dem Versetzen meiner Gummischuhe beschäftigt ist, will ich in Kürze den Leser mit diesem sonderbaren Geschöpfe bekannt machen. Sein Spitzname ist »Enge« und woher dieser Name rührt und was das überhaupt für ein Mensch ist, wird der Leser im nächsten Abschnitte erfahren.
Vor ungefähr zehn oder elf Jahren kam dieser Armenier nach Petersburg, doch weiss ich nicht, was für ein Wind ihn hierher geweht hat. Seinen Worten nach kam er zu Handelszwecken hierher. Ich bin jedoch von Natur nicht besonders leichtgläubig und zweifle, ob der Handel der einzige Zweck seiner Hierherkunft gewesen sein mag. Es ist wahrscheinlicher, dass er so Manches von den zahlreichen Vergnügungen und Schwelgereien der nordischen Hauptstadt gehört hatte, von Schwelgereien, in deren Genuss die Bewohner armenischer Städte aus Rücksicht auf Freunde und Bekannte ziemlich eingeschränkt sind. Vielleicht hatte er auch von der Annehmlichkeit gehört, die ein müssiger Mensch empfindet, wenn er mit einigen Rubeln in der Tasche in den zahlreichen und verschiedenartigen Restaurants, Kaffeehäusern, Konditoreien und sonstigen andern mitunter namenlosen Lokalen herumschlendert. Vielleicht hatte er von dem berühmten Newski Prospekt gehört, von seinen im Lichtermeer schwimmenden Trottoiren und der bunten Menge, die Tag und Nacht hier herumwogt. Ohne Zweifel mochte er auch von jenen Glücksrittern vernommen haben, die da in einem Hemd, mit ein paar Rubeln in der Tasche hierher gekommen und dann reich an Ehren und Gütern in ihre Heimat zurückgekehrt sind.
Ja, der Name »Petersburg« hat schon manchen Abenteurer betäubt und es ist daher nicht zu verwundern, dass unser Freund, ähnliche Hoffnungen hegend, sich schnell einige Rubel verschaffte und hierher kam, um sein Glück zu versuchen. Doch der Arme hatte vergessen, dass Petersburg nicht allen auf gleiche Weise günstig ist. Er hatte es nicht gewusst, dass jeder Abenteurer, wenn er auf Erfolg rechnen will, doch entweder ein wenig durchtrieben oder schön von Angesicht sein muss. Zum Unglück für ihn besass er keine von beiden Eigenschaften. Er war geradezu ein Ausbund von Hässlichkeit, klein von Wuchs, mager, dabei braun wie ein Zigeuner, so dass er eher einem solchen als einem Armenier ähnlich sah. Seine Nase war so lang wie der halbe Kopf, seine Beine kurz und krumm und mehrere der Zähne hatte er in Faustkämpfen verloren. Daher war es auch für jeden, der nicht an seine Aussprache gewöhnt war, schwer, ihn zu verstehen. Er sprach etwas russisch, auch armenisch, doch Gott weiss, welchen Dialekt. Auch die tatarische Sprache war ihm nicht fremd und da er in der Unterhaltung alle diese Sprachen mit einander mengte, erinnerte seine Rede lebhaft an die babylonische Sprachverwirrung. Was sein Alter betrifft, so mochte er wohl dreissig bis fünf und dreissig Jahre zählen, doch genau weiss ich es nicht.
Sein Treiben und Handeln hatte eine Licht- und eine Schattenseite. Die Lichtseite bestand für uns darin, dass wir ihn als einen armen unglücklichen Armenier kannten, den wir oft aus Mitleid in unsere Wohnung aufnahmen und mit Brod und Käse bewirteten. Seine Schattenseite lag in verschiedenen Verdächtigungen und Gerüchten, die über ihn in der Stadt, wo ihn fast alle kannten, von Mund zu Mund gingen. Bei alledem hatte er eine lobenswerte Eigenschaft. Wenn er nämlich irgend ein Gaunerstück ausführte, für welches er bestraft werden sollte, so verschwieg er stets, dass er ein Armenier sei. In solchen Fällen gab er sich gewöhnlich für einen Griechen, einen Zigeuner oder einen Juden aus. Wenn wir ihn dann im Scherze fragten, warum er seine Nationalität leugne, antwortete er gewöhnlich: »Ach, Brüderchen, wozu soll ich denn den Namen unseres Volkes schänden, mag man schon lieber den Griechen als den Armenier schelten!«
Welche Streiche er andern spielte, weiss ich nicht, aber für uns Studenten war er unentbehrlich. Wenn es vorkam, dass wir kein Geld hatten, so verschaffte er uns so schnell Thee, Zucker, Brod, Wurst und Tabak, dass wir geradezu erstaunten. Auch beim Versetzen und Verkaufen von Sachen zeigte er viel Geschicklichkeit, doch schlimm erging es uns, wenn er erfuhr, dass einer von uns Geld in der Tasche habe. Er ruhete da nicht, bevor er ihm nicht drei oder vier Rubel abgezwungen hatte.
Ich sagte oben, dass er den Spitznamen »Enge« trug, doch wie er dazu gekommen, mag er selbst erzählen und damit wird auch die Charakteristik dieses Armeniers zu Ende sein.
»Ich komme einmal, Brüderchen, zu Gabriel Bogdanitsch und finde Johannes bei ihm. »Hans,« sage ich, »was lasst ihr so die Nasen hängen? Gewiss geht es euch hundemässig schlecht, ihr habt kein Geld!« Beide antworten nicht. »Michael!« sage ich da, »wir nehmen an, Hans ist Hans, nämlich ein armer Teufel, auch Gabriel ist ein Lump, heute hat er etwas und morgen nichts, aber warum hast du denn kein Geld? Ja, ja, ich habe es dir schon gesagt, jage diese Metze zum Geier, denn sie frisst dich auf. Aber nein, du wolltest es nicht glauben und jetzt siehst du, dass ich nicht gelogen habe. Ach, du mein Brüderchen, ich kenne den Charakter dieser Frauenzimmer. Bevor sie dir nicht das letzte Hemd auszieht, wird sie dir immer ins Ohr flüstern: Ich liebe dich, ich bin bereit für dich zu sterben! und dann schürzt sie ihre Röcke auf und du hast das Nachsehen. Ach, weisst du, wenn ich deine Fähigkeiten besässe und so ein hübscher Kerl wäre wie du, würde ich hier eine glänzende Rolle spielen. Ja, ja, Michak, du kennst deinen Wert gar nicht und zahlst gar noch den Frauenzimmern Geld. Das ist der reine Wahnsinn!«
»Ach, höre auf, wir sind deiner schon überdrüssig, bist du denn ein Pfaffe, dass du uns hier solche Predigten hältst? Du siehst, dass keiner von uns einen Heller hat, dass wir nichts zu Mittag gegessen haben und nichts zu rauchen haben und anstatt uns etwas zu verschaffen, hältst du uns eine Predigt!«
»Das ist es eben!« sagte ich, »wenn ihr Geld habet, gebt ihr mir Rippenstösse und jagt mich aus dem Hause, und wenn eure Taschen leer sind, o, da bin ich ein herzensguter Kerl!«
»Doch mögen sie da gewesen sein wie sie wollen, sie waren doch meine Landsleute, sie waren Armenier. Ich ging, Brüderchen und holte Essvorrat für unsere Jungen. Keine halbe Stunde verging, als ich schon mit drei Pfund Brod, einem halben Schock gekochten Eiern, ⅛ Pfund Thee, zwei Pfund Zucker, mit Wurst und Tabak zurückkam. Die Jungen fielen wie hungrige Wölfe über mich her und als ich auf einen Augenblick wegging, um ein Tischtuch zu holen, war, als ich zurückkam, schon die Hälfte des Essvorrates verschwunden. Es war kein Brod und keine Wurst mehr da und die Eier hatten sie fast mit den Schalen verschlungen. Ich stand wie versteinert da. Und dann, als sie sich den Magen gefüllt hatten, fragte mich noch Michak: »Wo hast du das alles aufgegabelt?« Ich antwortete ihm, was mir gerade in den Kopf kam: »Ich habe mit einem Krämer »Enge«3 gemacht.« Ach, Bruder, wie da die Jungen lachten und schäkerten. »Enge!« »Enge!« wie oft haben sie dieses Wort wiederholt! Seit diesem Tage ist mir auch dieser Name verblieben.«
Nach einigen Minuten kehrte Alexander zurück und gab mir zwei Rubel, indem er sagte: »Der Mann verlangt keine hohen Zinsen und zwar monatlich nur fünfzehn Kopeken vom Rubel.«
Ich dankte ihm schnell und befahl dem Kutscher, zum Adress-Bureau zu fahren. Als wir dort anlangten, fragte ich meine Begleiterin nach ihrem Tauf- und Familiennamen.
»Marie Werder,« antwortete sie.
»Sofort werde ich Ihre Wohnung erfahren.« Ich ging schnell ins vierte Stockwerk hinauf und erfuhr dort, dass sie auf der Offiziersstrasse No. 16 wohne. Da wir uns nicht weit von dieser Strasse befanden und unsere Füsse von der Kälte fast erstarrt waren, so schlug ich ihr vor, den Weg bis zu ihrer Wohnung zu Fuss zurückzulegen.
Ich entliess den Droschkenkutscher und wir gingen wieder Arm in Arm weiter. Als wir an einem Kaffeehause vorüberkamen, erinnerte ich mich plötzlich, dass wir beide seit sieben oder acht Stunden nichts genossen hatten.
»Vielleicht wollen Sie etwas geniessen?« sagte ich zu ihr und lenkte meine Schritte der Thür des Kaffeehauses zu.
»Ich habe gar keinen Hunger,« sagte sie, »doch durstig bin ich sehr und ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir ein Glas Wasser brächten.«
Wir traten ins Kaffeehaus ein und ich befahl dem Kellner, vor allem ein Glas Limonade und dann zwei Tassen Kaffee und Cigaretten zu bringen. Als der Kellner alles gebracht hatte und wieder weggegangen war, bat ich das Mädchen, auf dem Lehnstuhle Platz zu nehmen, während ich mich auf den Sessel niedersetzte.
»Mein Fräulein, entschuldigen Sie meine Dreistigkeit,« sagte ich auf deutsch, »ich möchte nämlich einige Fragen an Sie stellen.«
»Fragen Sie immer, mein Herr!« erwiderte sie, verschämt die Augen niederschlagend.
»So viel ich bemerkt habe, sind Sie nicht von hier; sagen Sie mir also gefälligst, woher Sie sind?«
»Ich bin eine Schweizerin. Vor kaum einem Monate bin ich mit meiner Mutter hierher gekommen.«
»Warum haben Sie denn Ihre Heimat verlassen?«
»Mein Vater hat uns hierher berufen.«
»Wo ist jetzt Ihr Vater?«
»Eine Woche vor unserer Ankunft in Petersburg ist er hier in diesem Zimmer gestorben, wo auch meine Mutter entschlafen ist,« sagte sie mit einem tiefen Seufzer.
»Womit beschäftigte sich denn Ihr Vater?«
»Ein reicher russischer Fürst, namens L. . ., hatte ihn eingeladen, die Verwaltung seiner Güter zu übernehmen. Mein Vater war schon ein halbes Jahr hier, und da ihn der Fürst für seine Treue und Geschäftskenntnis sehr liebte, schlug er ihm schliesslich vor, seine Familie hierher kommen zu lassen, wobei er versprach, unsere Zukunft sicher zu stellen.
»Der Vater schrieb an uns, doch obgleich er das Leben in Russland sehr lobte und uns überhaupt seine Einladung grosse Freude bereitete, so verliessen wir doch unsere liebe Heimat nur mit schmerzlichem Leidgefühl. Da wir von vielen gehört und auch in manchem Buche gelesen hatten, dass Russland ein sehr rauhes Klima habe, dass sein Boden unfruchtbar und überhaupt das Land sehr unwirtlich sei, so erfüllte uns schon der Gedanke, unsere schöne Heimat gegen dieses fremde Land zu vertauschen, mit Schrecken. Ach ja, wer giebt mir unsere schönen Fluren wieder, unsere freien Berge, unsere schäumenden Bäche, unsern wolkenlosen, blauen Himmel, unser gastfreundschaftliches, menschenfreundliches Volk! Ach wer . . .« Hier verstummte sie, ihre Augen füllten sich mit Thränen. »Ach!« fuhr sie nach einer Weile fort, »warum haben wir der Ahnung unserer Herzen nicht Gehör gegeben, warum haben wir die Heimat verlassen, was suchten wir in diesem rauhen Lande? Ach, mein Herr, nehmen Sie mir meine Schwäche nicht übel, aber es war mir unmöglich, meinen Schmerz zu überwinden. Sie begreifen meine traurige Lage und werden Nachsicht fühlen mit meiner Mutlosigkeit, in die mich dieses schwere Unglück versetzt hat. Ach, ich verliere fast die Sinne, wenn ich daran denke, was meiner hier harrt.«
»Haben Sie in Ihrer Heimat Verwandte?«
»Nein, mein Vater war ein französischer Emigrant. Während der Revolution im Jahre 1830 gelang es ihm den Händen seiner Henker zu entwischen, all' sein Hab und Gut, welches er in Frankreich besass, liess er im Stiche und liess sich in Basel nieder. Dort lernte er meine Mutter kennen, welche eine arme, aber unbescholtene Waise war und sich durch Nähen ihren Unterhalt verdiente. Wie Sie sehen, bin ich in dieser Welt eine hilflose Waise. Vor drei Tagen habe ich meine letzte Stütze verloren. Jetzt werden Sie mir glauben, dass ich ein Recht habe, mich für das unglücklichste Wesen der Welt zu betrachten.«
»Verzagen Sie nur nicht!« sagte ich ihr, »es giebt überall edle Menschen und Gott verlässt die Waisen nicht. Allerdings will ich nicht behaupten, dass Ihre gegenwärtige Lage nicht traurig sei, aber gedenken Sie doch Ihrer Mutter, die ja auch, ehe sie Ihren Vater kennen lernte, ihren Unterhalt zu verdienen wusste. Auch Sie können ja auf dieselbe Weise Ihren Unterhalt verdienen; vielleicht . . .« Ich sprach den Satz nicht zu Ende, sondern schaute sie schweigend an, doch als mein Blick dem ihrigen begegnete, wurden wir Beide verlegen und schlugen die Augen nieder.
»Trinken Sie Ihren Kaffee, denn er wird ja ganz kalt!« begann ich nach einer Weile, um unserer Verlegenheit ein Ende zu machen und rauchte eine Cigarette an.
»Woher sind Sie denn?« fragte sie mich nach kurzem Schweigen. »Entschuldigen Sie meine Neugier, aber ich glaube, Sie sind kein Russe.«
»Sie haben Recht, ich bin auch fremd in diesem Lande, ich bin ein Armenier.«
»Sie leiden also so wie ich an Heimweh!« versetzte sie lächelnd, »wie ist denn Ihr Name?«
»Michael Wajeltschjan,« erwiderte ich, zog von meiner verwundeten Hand das mir von ihr geliehene Taschentuch und ohne etwas zu sagen, zeigte ich mit dem Finger auf die auf dasselbe eingenähten Buchstaben M. W. »Wundern Sie sich denn nicht, dass die Anfangsbuchstaben unserer Namen dieselben sind? Meinen Sie nicht auch, dass in diesem Zusammentreffen ein Geheimnis liegt, welches die Vorsehung einstweilen noch vor uns verbirgt?«
»Auch mir schienen diese Buchstaben immer geheimnisvoll zu sein; ich suchte in ihnen immer meine Schicksalsbestimmung zu finden. Wenn Sie nicht über mich lachen wollen, werde ich Ihnen etwas sagen. Eines Tages, es war noch in der Heimat, ging meine Mutter in die Kirche und ich blieb mit unserer alten Dienstmagd allein zu Hause. Ich sass einsam am Fenster und wie ich es oft zu thun pflegte, heftete ich meine Augen auf diese zwei Buchstaben, um aus Wörtern mit denselben Anfangsbuchstaben einen Gedanken zu bilden. Jedoch nicht einer derselben gefiel mir, bis mir endlich Worte einfielen, die sich tief in meine Phantasie eingeprägt haben und mir seit jener Stunde nicht aus dem Gedächtnis schwinden wollen. Es ist mir, als ob sie mir Schrecken einflössten und doch warte ich mit Ungeduld ihrer Erfüllung.«
»Wie sind diese Worte?« fragte ich.
»Mort par venin!« sagte sie, »seit jenem Tage habe ich mir in den Kopf gesetzt, dass mein Leben durch Gift enden muss.«
»Um Gottes Willen, lassen Sie doch diese thörichten Ahnungen, die nur ein Kind, aber nicht ein so gebildetes Fräulein wie Sie beschäftigen können. Doch was würden Sie sagen, wenn ich aus diesen Anfangsbuchstaben andere Worte bildete und zwar: Madame oder Marie Wajeltschjan!« schloss ich scherzend.
»Jetzt ist die Reihe an mir, Ihnen zu sagen: Lassen Sie diese thörichte Prophezeiung, die nur einem Knaben in den Kopf kommen kann, aber nicht einem so gebildeten Studenten wie Sie.«
Sie errötete, als sie diese Worte sagte und aufs Fenster blickend, rief sie aus:
»Ach Gott, es ist schon finster, ich muss nach Hause gehen. Was wird meine Wirtin denken, dass ich so lange nicht nach Hause komme. Ich bitte Sie, mein Herr, begleiten Sie mich!«
Sie erhob sich von ihrem Lehnstuhle und obgleich ungern, stand auch ich auf, rief den Kellner, bezahlte ihn und verliess mit ihr das Kaffeehaus.
»Mein Fräulein!« begann ich, als wir auf der Strasse waren, »was gedenken Sie fernerhin zu thun?«
»O ich bin ganz ratlos in dieser Hinsicht, ich weiss nicht, was ich morgen . . .« Sie sprach ihre Worte nicht zu Ende, doch ich verstand sie und fuhr in Gedanken fort: »Ich weiss nicht, was ich essen und wo ich wohnen werde.«
»In diesem Falle bitte ich Sie meine sehr unbedeutende Hülfeleistung nicht abzuschlagen; ich biete sie Ihnen von ganzem Herzen an. Nehmen Sie hier diesen Rubel, vielleicht kommen Sie damit bis morgen Mittag durch, das weitere wird sich mit Gottes Hülfe wohl machen lassen.«
»Ach, mein Herr, welches Recht habe ich denn, Sie der letzten Kopeke zu berauben. Ich weiss ja, dass Sie selbst unbemittelt sind und auch zu Hause nichts haben. Glauben Sie, ich hätte es nicht bemerkt, wie Sie Ihre Gummischuhe ausgezogen und jenem Zigeuner verkauft haben, um mir zu helfen? Ich weiss überhaupt nicht, ob ich Ihnen jemals die Güte, die Sie mir heute erwiesen haben, vergelten kann.«
»Mein Fräulein!« fiel ich ihr ins Wort, »Ihre Rede zeigt nur, dass Sie von mir keine gute Meinung haben. Glauben Sie denn, ich sei zu einem so unbedeutenden Opfer nicht fähig, und woher können Sie denn übrigens wissen, dass all' mein Vermögen in diesen Gummischuhen bestand? Nein, Gott sei Dank, ich bin noch genug . . .,« ich wollte sagen »reich«, konnte mich aber nicht entschliessen eine so freche Lüge heraus zu bringen und verschluckte die weiteren Worte.
»Wenn Sie mir Ihre Achtung bezeigen wollen, so zwingen Sie mich nicht dieses Opfer anzunehmen.«
»Nun, wenn Sie die Annahme meiner Hülfeleistung abschlagen, wollen Sie wahrscheinlich nicht, dass wir Bekannte bleiben. Thuen Sie wie Sie wollen!« schloss ich beleidigt.
»Nein, nein! das wollte ich nicht sagen, aber Sie werden ja für morgen selbst nichts haben,« sagte sie mit so gefühlvoller Stimme, dass ich beinahe, ihr Trauerkleid und ihre trübe Lage vergessend, ihr auf der Stelle Hand und Herz angeboten hätte. (Richte mich nicht strenge, geehrter Leser, ich war damals neunzehn Jahre alt!)
»Machen Sie sich um mich keinen Kummer!« versetzte ich. »Wenn Sie es zulassen, werde ich aufrichtig mit Ihnen reden. Hören Sie mich also an: Reich bin ich allerdings nicht, ich habe weder einen Jahresgehalt noch sonst welche Einkünfte, auch sind meine Eltern nicht in der Lage mich mit Geldmitteln zu versehen, aber zum Ersatz für alles dies habe ich einen Schatz, den ich unerschöpflich nennen darf. Dieser Schatz sind meine Freunde, welche zwar nicht hier wohnen, aber stets, wenn ich ihrer Hülfe bedarf, bereit sind mir ihr letztes zu opfern. Jetzt werden Sie glauben, dass ich nicht so arm bin wie ich Ihnen scheine.«
»Ach, mein Herr, Sie veranlassen mich Ihnen bis zum Ende meines Lebens dankbar zu sein. Sie handeln so edel, dass ich Sie schon am ersten Tage unserer Bekanntschaft als einen Bruder und innigen Freund anerkennen muss. Ja, ich bin bereit Ihre Hülfe anzunehmen, aber nur unter folgenden Bedingungen, erstens, dass Sie mir Ihre ganze Summe zeigen, zweitens, dass Sie mir versprechen sich vor allem an mich zu wenden, wenn Sie in Geldnot sein sollten.«
»Hier haben Sie meine Hand!« sagte ich zum Beweise, dass ich mit ihrem Vorschläge einverstanden sei.
»Hören Sie mich jetzt an! Ich habe in der Tasche einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Mit diesen fünfzehn Kopeken werde ich so ziemlich bis morgen auskommen. Sollte ich morgen kein Geld erhalten, so hole ich mir bei Ihnen dreissig Kopeken. Sind Sie damit einverstanden?«
»Gut!« erwiderte sie.
Als sie dieses letzte Wort aussprach, waren wir gerade an ihr Haus gekommen.
»Wollen Sie nicht in meine Wohnung eintreten?« sagte sie mit solcher Unschuld und Harmlosigkeit, dass ihre Worte selbst in dem argwöhnischsten Menschen keinen Verdacht hätten erwecken können.
»O, ich möchte sehr gern Ihr Heim sehen,« erwiderte ich, ohne irgend etwas dabei zu denken.
Es dämmerte schon. Die finstere und schmutzige Treppe war von keiner Lampe erleuchtet und in der Dunkelheit herum tastend gelangten wir mit Mühe zu ihrer Wohnung. Eine von den beiden mir schon bekannten Frauen öffnete die Thür und um zu sehen, wer da sei, hielt sie mir das Licht vors Gesicht. Marie grüsste sie schüchtern, aber das Weib nahm ihren Gruss sehr kühl entgegen und brummte ironisch vor sich hin:
»Das ist wirklich schön! Die Leiche ihrer Mutter liegt kaum ein paar Stunden unter der Erde und schon bringt sie junge Mannsleute ins Haus!«
Anstatt zu antworten, drohte ich der Alten mit dem Finger. Es war mir schwer meinen Zorn zu bewältigen, ich näherte mich ihr also und sagte ihr halblaut ins Ohr:
»Wenn ich noch ein beleidigendes Wort von dir höre, schlage ich dir deine letzten zwei Zähne aus. Hörst du? Es ist dein Glück, dass dieses Fräulein nicht verstanden hat, was du gesagt hast, denn sonst hätte ich dich zur Treppe hinunter geworfen!«
Vielleicht waren es nicht meine donnernden Worte, sondern die glänzenden Knöpfe meiner Studentenuniform, welche der alten Schachtel Schrecken und Ehrfurcht einflössten. Sie sprach kein Wort mehr und ich trat in Mariens Zimmer ein. Dasselbe war von einem Talglichte nur düster erleuchtet. Drei oder vier zerbrochene Stühle, ein alter Tisch, und in der Ecke ein Koffer bildeten die ganze Möblierung ihrer Wohnung. Doch siehe, inmitten dieses elenden Gerümpels stand ein schönes Klavier von Nussbaumholz.
Ich legte meinen Paletot ab und setzte mich auf einen Stuhl nieder, Marie nahm etwas entfernt von mir Platz. Meine Blicke schweiften im Zimmer umher und da sie wahrscheinlich meine Umschau unterbrechen wollte, sagte sie plötzlich.
»Sie wundern sich wahrscheinlich, dass Sie weder Bettstelle, Bettzeug, noch sonst andere nicht nur nötige, sondern selbst für den Ärmsten unentbehrliche Gegenstände hier sehen! Wundern Sie sich nicht, und da Sie schon ein gewisses Recht haben, alle meine Verhältnisse kennen zu lernen, will ich Ihnen Alles wie einem leiblichen Bruder erzählen. Heute morgen waren alle diese Sachen noch hier, aber der Sargtischler weigerte sich, vor Empfang der ihm zukommenden sechs Rubel den Sarg meiner Mutter ins Haus zu bringen. Auch der Besitzer des Leichenwagens verlangte seine acht Rubel im voraus. Alles, was mir an Sachen von meiner Mutter verblieben war, habe ich ihnen abgegeben, um nur die letzte Kindespflicht zu erfüllen.«
In der Folge erfuhr ich, dass diese Gauner von dem armen, unerfahrenen Mädchen Sachen im Werte von nicht weniger als hundert Rubeln erpresst hatten. Doch was war zu thun, es war einmal geschehen!
»Auf welche Weise haben Sie denn dieses Klavier gerettet?« fragte ich.
»Ach, mein Herr, fragen Sie nicht! Es war hier in dieser fremden Stadt für mich und meine Mutter der einzige Trost auf Erden. Ohne Leidgefühl habe ich meine Kleider hingegeben, meine Schmucksachen, Bücher, Bettzeug, sogar meinen Wintermantel, um nur dieses Klavier noch einige Tage zu besitzen. Allerdings wird mich früher oder später die Not zwingen es zu verkaufen, aber ich habe mir das Wort gegeben, dass ich diesen Ring, welchen mir meine Mutter in der Sterbestunde überreicht hat, eher verkaufe als dieses Klavier. Ach, mein Gott, soll wirklich der Tag kommen, da ich das letzte Andenken meiner Mutter . . .«
Als ich erfuhr, dass dieser Ring nicht ein Verlobungspfand, sondern ein Andenken ihrer Mutter sei, beruhigte ich mich, als wäre mir eine schwere Bürde von den Schultern gefallen.
»Verzagen Sie nicht!« sagte ich, »vor solcher Not wird Sie Gott bewahren. Mein Herz sagt mir, dass Sie bald auf würdige Weise aus dieser unglücklichen Lage herausgelangen werden!«
»O, gebe Gott, dass die Ahnung Ihres Herzens in Erfüllung gehe! Nie hätte ich es zu hoffen gewagt, dass ich hier in diesem fremden Lande als arme, verlassene Waise plötzlich einen so wohlwollenden Freund finden würde, wie Sie es sind!« Bei diesen Worten reichte sie mir die Hand. »Herr Michael, mein edler Freund!« fuhr sie fort, »ich danke Ihnen! Glauben Sie mir, dass wenn mich in der Folge auch Meere und Berge von Ihnen trennen sollten, so wird doch das Andenken an Sie unverwelkt in meinem Herzen fortdauern!«
Ihre Worte verwirrten mich ganz und gar und fesselten mir so die Zunge, dass ich ihr nicht einmal antworten konnte. Ich war wie versteinert und das war ganz natürlich, denn es war ja das erste Mal, dass mir ein Mädchen ihr unbeflecktes, jungfräuliches Herz öffnete. Zum ersten Male hörte ich diese aufrichtige, wahrheitstreue Sprache, von der man jedes Wort ohne den geringsten Zweifel glaubt.
Ich verwünschte mich und mein Schicksal und alle die Fälle, in welchen ich einer unwürdigen und lasterhaften Liebe Raum in meinem Herzen gegeben hatte. Meine Reue kam spät, aber sie war um so aufrichtiger. Plötzlich bemächtigte sich meiner ein schweres Leidgefühl, es war mir als ob meine Seele Höllenqualen leide und mein Gewissen sagte mir: Verunreinige nicht die Wohnung dieses keuschen Mädchens durch deine Anwesenheit! Ich ergriff schnell meinen Hut, näherte mich ihr und die Augen niederschlagend, nahm ich Abschied von ihr. Sie stand auf und mir ihre Hand reichend sagte sie:
»Sie gehen schon? . . . Darf ich hoffen, dass das nicht Ihr letzter Besuch war? Wann sehen wir uns wieder, mein treuer Freund?«
»Wie ich Ihnen gesagt habe, morgen um zwölf Uhr. Sollte ich mich nicht einfinden, so erwarten Sie mich abends, zwischen sieben und acht!«
Hierauf warf ich schnell meinen Mantel um und wie ein Rasender rannte ich die Treppe hinunter.
Sobald die kalte Nachtluft meine Stirne umwehte, schwanden meine trüben Gedanken. Um meinen erhitzten Körper vor Verkältung zu bewahren, beschleunigte ich meine Schritte so sehr, dass ich beinahe laufend nach Hause eilte. Mariens Wohnung war fast vier Werst von der meinigen entfernt, aber da mein ganzes Vermögen aus fünfzehn Kopeken bestand, so wäre es reiner Wahnsinn gewesen, dieselben noch für einen Schlitten auszugeben. Ich wusste bestimmt, dass mich mein Kollege mit Ungeduld erwartete und dabei hoffte, dass ich ihm etwas zum Rauchen und Essen mitbringen würde. Ich sage absichtlich zuerst »zum Rauchen«, denn Studenten und ihnen ähnliche arme Schlucker werden gewöhnlich mehr vom Rauch- als vom Esshunger gequält.
Es ist sonderbar, welche Wirkung der Tabak auf die Menschen ausübt und Nichtraucher sind gar nicht im Stande dieses Vergnügen zu begreifen, welches besonders junge Leute beim Rauchen empfinden.
Als ich schon nahe an meinem Hause war, trat ich in den Laden eines Viktualienkrämers ein und verlangte 2 Pfund Schwarzbrod, 1 Talglicht, für 3 Kopeken Thee und für 4 Kopeken Zucker. Auf diese Weise blieb mir nur eine Kopeke übrig, so dass ich also keinen Tabak kaufen konnte. Doch die Not ist die Mutter der Erfindungen!
»Hast du Cigaretten?« fragte ich.
»Gewiss, Euer Wohlgeboren!« erwiderte der sui generis höfliche Krämer. »Wie viel Stück befehlen Eure Durchlaucht?«
»Zehn Stück werden bis morgen genügen, aber siehe, mein lieber Freund, als ich ausging, war ich der Meinung, ich habe Geld zur Genüge in der Tasche und jetzt sehe ich erst, dass ich nicht mehr als fünfzehn Kopeken bei mir habe. Hier nimm diese eine Kopeke, die übrigen neun werde ich dir morgen durch meinen Diener schicken. Ich hoffe, dass du mir so viel Vertrauen schenken wirst.«
»Ich bitte!« sagte der gutmütige Krämer.
»Den habe ich angeführt!« dachte ich bei mir, nahm die Ware samt den zehn Stück Cigaretten und vor Freude einen Marsch pfeifend ging ich nach Hause.
»Johannes, bist du da?« fragte ich, als ich in die Stube trat, doch ich erhielt keine Antwort.
»Johannes!« wiederholte ich lauter.
»Hm!« brummte Johannes auf seinem Bette. »Michael, bist du es?«
»Ja, ich bin es! Warum liegst du im Finstern?« sagte ich in Gedanken lachend.
»Woher sollte ich denn ein Licht nehmen?« bemerkte mein armer Kollege.
»Steh' auf, steh' auf, ich bringe dir ein Licht, Brod und Thee!«
»Hast du nicht einen Stummel?«
»Stehe nur erst auf! Ich will sogleich das Licht anzünden.«
»Brr! ist das kalt in diesem Loche!« rief Johannes, »wie ist es denn draussen, ist es eben so kalt wie heute Morgen?«
»Hoho, Brüderchen, ich glaube es ist etwas kälter!« erwiderte ich.
»Ich dachte schon, du wärst unterwegs erfroren; wo hast du dich denn so verspätet? Ach, ja, sage mir doch, weshalb du heute Nachmittag so wie ein Rasender aus dem Zimmer gelaufen bist? Was gab es denn mit dir?«
»Lassen wir das einstweilen. Ich habe dir viel zu erzählen.«
Ich zündete das Licht an. Johannes fiel vor allem über die Cigaretten her, öffnete das Päckchen und zündete eine an, wobei er mit wahrer Gier den Rauch in die Gurgel zog.
»Juchhe! jetzt hat wieder meine Seele ihre richtige Lage gefunden. Seit elf Uhr Vormittag habe ich nicht geraucht und wenn ich noch zwei solche Tage haben sollte, da sterbe ich auch ohne die Cholera.«
»Fürchte dich nicht, du wirst nicht sterben. Man hat mir aus Moskau geschrieben, dass ich mit der ersten Post drei Pfund Tifliser Tabak erhalte.«
»Eine alte Geschichte! Wir hören schon lange diesen Trost. Die werden dir aus Moskau etwas Rechtes schicken!« sagte er über meine Worte lachend. »Bis du aus Moskau Tabak und andere Sachen bekommst, werden wir uns noch manchen Tag so durchschlagen müssen wie heute.«
»Lassen wir dieses Gespräch! Machen wir lieber den Samowar zurecht und dann werde ich dir beim Glase Thee so manches erzählen.«
»Ach, Michael, weisst du was!« sagte plötzlich Johannes. »Fast hätte ich es vergessen. Ich hatte eben einen schrecklichen Traum. Mir träumte, du tanztest mit einem Mädchen an einer tiefen Grube. »Michael!« sagte ich zu dir, »was hast du da für einen Ort zum Tanzen ausgewählt, siehst du denn nicht die Grube vor dir?« Du achtetest aber nicht auf meine Worte und fuhrst fort zu tanzen. Plötzlich entwand sich das Mädchen deinen Armen, näherte sich dem Rande der Grube und sich noch ein letztes Mal nach dir umsehend, sprang sie hinein. Du liefst ihr in Verzweiflung nach, thatest einen herzzerreissenden Schrei und sprangst auch hinein, aber nach einer Weile kamst du wieder wie auf Flügeln in die Höhe und standst traurig bei mir.« »Was ist mit dem Mädchen geschehen?« fragte ich. »Sie ist in der Tiefe verschwunden, ich habe sie nicht finden können,« gabst du mir zur Antwort und ich erwachte vor Schrecken.
Mein Kollege schwieg eine Weile und sagte dann: »Was kann dieser Traum bedeuten?«
»Wenn der Tag gut ist, hat auch der Traum einen guten Ausgang,« sagte ich lachend.
»Scherz bei Seite! Die Träume gehen manchmal in Erfüllung, weisst du?« bemerkte mein Kollege.
»Nun ja, manchmal gehen sie in Erfüllung,« bemerkte ich. »Zum Beispiel: Vor einigen Tagen träumte mir, ich lege die Hand in die Tasche, und siehe da! Ich ziehe eine Hand voll Gold nach der andern heraus, so viel, dass ich müde wurde. Am Morgen, als ich schon erwacht war, schickte mir der Krämer durch seinen Jungen die Rechnung. Nicht wahr, das war eine gute Erfüllung meines Traumes?«
»Lassen wir diese Träume!« sagte Johannes, »erzähle du mir jetzt, wie du den Tag verbracht hast!«
Ich erzählte ihm Alles, nur wo Marie wohne, verschwieg ich.
»Hoho, mein lieber Freund, du knüpfst im Geheimen Liebschaften an! Drum dachte ich mir auch: Was ist mit unserem Michael vorgefallen?«
In diesem Augenblicke begann das Wasser im Samowar zu sieden und wir erinnerten uns, dass wir seit dem Morgen nichts Ordentliches gegessen hatten. Ich schüttete also den Thee in die Kanne, schnitt Brod zurecht, klopfte den Zucker in Stücke und dann setzten wir uns zu unserer Doppelmahlzeit nieder, die für uns Mittagessen und Abendbrot zugleich war.
»Ach, Michael!« begann Johannes, »ich habe mich heute gut abgequält. Wenn mir Gott nicht den Schlaf gesandt hätte, weiss ich nicht, was aus mir geworden wäre!«
Dabei verzehrte er ein Stück Brod nach dem andern mit einem wahren Heisshunger.
Auch ich war nicht minder hungrig als er, denn obgleich ich im Kaffeehause etwas genossen hatte, so war doch die Tasse Kaffee und die wenigen Zwiebacks kein besonderer Trost für meinen Magen, der so selten ein sättigendes Mittagsmahl sah wie Petersburg zur Herbstzeit die Sonne.
»Nun Michael, was sagst du noch Neues?« begann Johannes, nachdem er drei Gläser Thee und fünf Stücke Brod verzehrt hatte.
»Was kann ich dir Besonderes sagen? Allerdings hätte ich dir noch so manches zu sagen, aber es lässt sich ja doch nicht leicht ausführen. Erstens bin ich verliebt, wie du siehst und zweitens habe ich meiner Freundin das Wort gegeben, morgen irgend einen Weg zu finden, auf dem ich ihr helfen kann, drittens . . .«
»Michael, nimm mir's nicht übel, wenn ich dich unterbreche! Die Liebe ist ein ganz hübsches Ding, dagegen lässt sich nichts einwenden, besonders wenn man ein unschuldiges, keusches Mädchen liebt, wie das deinige, aber denke nur daran, mein Brüderchen, wie viel Opfer diese Liebe von dir fordert und hast du dazu die genügende moralische und materielle Kraft? Denke nur daran, dass du in Petersburg bist, wo du kaum deine eigenen geringen Bedürfnisse befriedigen kannst und du willst dir noch mit dem Schicksal eines zarten Mädchens Kummer machen. Als du ihr deine Hülfe versprachst, bildetest du dir wahrscheinlich ein, du seiest der Sohn eines Millionärs. Ja, ja, du hast vergessen, dass deine Moskauer Freunde gegenwärtig deine einzige Zuflucht sind,« setzte er ironisch hinzu.
»Was willst du mit diesen Worten sagen?« rief ich erzürnt. »Du willst vielleicht, dass ich sie der Willkür des Schicksals überlasse, dass sie eine Zeit lang mit Not und Entbehrung kämpfen und schliesslich, um dem Elende zu entgehen, ihre Tugend zum Opfer bringen soll. Ja, darin besteht dein Wunsch! Das war ein guter Rat, den du mir gegeben hast!«
»Sachte, sachte, ereifre dich nicht! Wer hat dir gesagt, dass ich der Auserwählten deines Herzens ein solches Schicksal wünsche? Ich meinte nur, du solltest einen anderen Ausweg finden, um nicht deine eigene Lage noch schwieriger zu machen. Du sagtest, das Mädchen sei gebildet, in was besteht denn ihre Bildung? Kennt sie Sprachen, ist sie musikalisch, kann sie sticken, um Stunden geben zu können oder wo als Gouvernante unterzukommen?«
»Ich habe sie nicht geprüft, bin aber überzeugt, dass sie genügende Kenntnisse besitzt, um Erzieherin zu werden, doch ich will mir lieber die Hand abhauen lassen, als ihr zu raten, als Gouvernante in eine hiesige Familie einzutreten. Kennst du denn die Lage dieser Erzieherinnen? Wenn du es nicht weisst, so höre! Ein junges unerfahrenes Mädchen tritt in eine fremde Familie ein; ihre Obliegenheit ist es, nicht nur die Kinder zu unterrichten und zu beaufsichtigen, aber auch deren kleinsten Wunsch zu erfüllen und ihre Laune zu befriedigen. Sie muss mit ihnen auf den Strassen herumschlendern, ist für jede ihrer Bewegungen verantwortlich. Wenn eins der Kinder hinfällt und sein Kleid beschmutzt, so ist die Gouvernante daran schuld; isst es zu viel und wird krank, so ist es auch ihre Schuld. Dann fällt es der Mutter ein aus einem Laden in den andern zu laufen und die Gouvernante muss sie begleiten wie ein Hund. Ist die Madame nicht zu Hause und der Herr Gemahl langweilt sich, so muss wieder die Gouvernante helfen und um ihn zu zerstreuen, mit ihm Karten spielen. Soll ich dir noch mehr sagen, da komme her, denn solche Dinge sagt man nur ins Ohr! Jetzt verstehst du mich, nicht wahr?«
»Wenn das so ist, so handle wie du meinst. Ich zweifle natürlich nicht an deinem Edelmute, aber ich bedaure dich. Handle so, dass du später nichts zu bereuen hast!«
»Ach, lieber Bruder, wenn wir auch edle Thaten bereuen sollen, da lohnt es sich überhaupt nicht zu leben. Da ist es besser, man springt ins Wasser.«
Johannes schwieg, zündete eine zweite Cigarette an und fing an im Zimmer auf und abzugehen.
Plötzlich ging jetzt die Thür auf und der Hausknecht trat mit einem Papiere in der Hand herein.
»Euer Wohlgeboren!« sagte er, hier ist für Sie eine Postanweisung auf dreissig Rubel.«
»Geld?« rief ich auf den Hausknecht zuspringend, »gieb, gieb her! ich danke dir!«
Ich ergriff schnell die Anweisung und sah, dass für mich aus Moskau ein Brief mit dreissig Rubeln angekommen war.
»Nun siehst du?« sagte ich zu Johannes, als der Hausknecht hinausgegangen war. »Siehst du, wie falsch deine Prophezeiung war? Nicht wahr, man kann mitunter auf seine Freunde rechnen? Habe ich dir nicht gesagt, dass meine Freunde edle Jungen sind? Gott sei Dank, jetzt fürchte ich nichts. Jetzt kann ich getrost zu meiner Marie gehen, ihr mit ritterlicher Höflichkeit all' meinen Reichtum zu Füssen legen und ihr sagen, dass . . .«
»Und für uns soll nichts bleiben?« fragte Johannes besorgt.
»Ach, nimm mir's nicht übel! ich bin ganz verwirrt. Wie könnte ich denn für uns nichts übrig lassen! Natürlich werde ich einen Teil für uns behalten. Sobald ich das Geld in Händen habe, gehe ich und kaufe das Nötige für uns ein und erst dann gehe ich zu meiner Holden. Schön?«
»Schön, sehr schön?« sagte mein Kollege erfreut. »Doch wie denkst du das Geld einzuteilen, was willst du kaufen?«
»Nun, das ist ja eine bekannte Sache! Zehn Pfund Zucker, ein Pfund Thee, zwei Pfund Tabak, Wurst, Käse, alles kaufe ich und für die Stunde der Not lege ich fünf Rubel bei seite. Nicht wahr, meine Einteilung ist gut?«
»Gut, gut, aber einen Rubel giebst du mir!«
»Wozu denn? wir werden ja alles haben!«
»Ja, aber ich habe kein Papier zum Zeichnen, auch Bleistifte fehlen mir; eben deswegen war ich mehrere Tage nicht in der Akademie.«
»Ja, natürlich, einen Rubel sollst du haben!«
»Heute war der Schuster und die Wäscherin hier. Er verlangte drei Rubel, sie aber achtzig Kopeken. Was meinst du, sollen sie bezahlt werden?«
»Ja, gewiss, ich bezahle sie.«
»Auch die Milchfrau hat ihr Geld gefordert.«
»Auch die bezahle ich, denn erstens ist sie arm und lebt nur von ihrer einzigen Kuh und zweitens hat sie uns ja oft mit ihrer Milch aus der Not geholfen, wenn wir weder Thee noch Zucker hatten. Nein, sie muss durchaus befriedigt werden.«
»Haha!« lachte mein Kollege, »wenn du so gewissenhaft die Schulden bezahlen willst, so wirst du der Auserwählten deines Herzens nicht viel opfern können.«
»Wieso denn?« fragte ich erstaunt, »sind denn dreissig Rubel eine kleine Summe?«
»Gewiss, für den, der etwa jeden Monat dreissig Rubel erhält, ist das immer Geld, aber für dich, dessen ganze Zukunftsstütze darin besteht, sind dreissig Rubel gar nichts.«
»Ach, lieber Johannes, Gottes Wege sind uns unbekannt! Vielleicht erhört Gott die Gebete dieses armen Mädchens und wendet mein Schicksal zum bessern!«
»Gott gebe es!«
Wir verfielen beide in Nachdenken.
»Nun Michael!« begann Johannes nach einer Weile, »es wäre Zeit, dass du dich schlafen legst. Ich muss noch aufbleiben und ein bestelltes Porträt zu Ende bringen, vielleicht verdiene ich dabei einige Rubel!«
Mir fielen wirklich schon die Augen zu und das an diesem Tage Erlebte hatte mich dermassen erschüttert, dass ich kaum noch die Zunge bewegen konnte. Ich stellte also drei Stühle neben einander, legte in Ermangelung eines Kissens meinen Rock unter den Kopf, deckte mich mit dem Mantel zu und schlief ein.
Ich weiss nicht, wie lange ich so geschlafen haben mochte, als ich plötzlich vor Schrecken aufsprang und mich mit irrenden Blicken im Zimmer umschaute. Johannes sass noch am Tische und ein Liedchen summend zeichnete er.
»Johannes!« sagte ich, »wie spät kann es jetzt sein?«
»Ich habe meine Uhr nicht hier. Warte ein wenig, bis ich sie vom Juden hole!« erwiderte er lachend.
»Was meinst du, habe ich lange geschlafen?«
»Ich glaube, ungefähr zwei Stunden.«
»Weisst du, ich hatte einen schrecklichen Traum; bis jetzt kann ich noch nicht zu mir kommen.«
»Ach, du sagtest ja, dass du von Träumen nichts hältst.«
»Nun, sage ich denn, dass ich an ihre Bedeutung glaube?«
»Also warum bist du so erschrocken?«
»Nun, im Traume wusste ich doch nicht, dass es ein Traum war. Wenn du willst, werde ich ihn dir erzählen!«
»Bitte, bitte!«
Ein Schrecken ergriff mein Herz, denn fast jeder Mensch hat in seinem Leben Augenblicke, wo er abergläubisch wird. Meine sonderbare Begegnung mit Marien, ihre Erzählung, meine Geldnot und die plötzliche Befreiung aus derselben und schliesslich mein und meines Kollegen Traum; alles das musste einen mächtigen Eindruck auf einen so jungen Menschen machen, wie ich damals war. Trotzdem bemühte ich mich aus falschem Schamgefühl ruhig zu scheinen und erzählte nun meinem Freunde folgendes:
»Mir träumte, ich ginge mit Marien im Sommergarten spazieren. Ich trug meinen einfachen Studentenrock, sie aber war reich und schön gekleidet, wodurch ihre Körperreize bedeutend erhöht wurden. Alle Vorübergehenden schauten sie mit Entzückung an und obgleich Marie gegen diese allgemeine Bewunderung gleichgültig blieb, so war es mir doch äusserst unangenehm, dass jeder seine gierigen Blicke auf sie richtete. Plötzlich erschien bei uns ein Offizier, welcher Marien bei der Hand ergriff und sie mir gewaltsam entriss. »Hilf, hilf, Michael!« schrie Marie mit herzzerreissender Stimme. Halb rasend lief ich ihnen nach, aber sie entfernten sich so schnell, dass ich sie nicht einholen konnte. Sie verliessen den Garten und liefen an die Newa, wo der Offizier Marien mit Gewalt in einen Kahn setzte. Als ich am Ufer ankam, waren sie bereits in der Mitte des Flusses. »Marie, Marie!« rief ich, »schreie um Hülfe!« doch sie hörte mein Rufen nicht. Die Schiffer, welche am Ufer standen, schauten mich mit Lachen an und sagten: »Nun was, gnädiger Herr, der hat Ihnen Ihr Täubchen entführt! Geben Sie uns hundert Rubel und wir wollen sie einholen, denn sonst sehen Sie das Mädel in Ihrem Leben nicht mehr wieder!« Doch niemand half mir, ich wandte daher meine zornigen Blicke gen Himmel, und was sehe ich! Marie schwebt in der Luft und hinter ihr her jagt der Offizier, um sie zu erhaschen. »Marie, Marie!« rufe ich, »komme herunter!« »Nein!« sagte sie, »ich gehe in den Himmel, denn auf der Erde sind böse Menschen!« »Marie!« fuhr ich fort, »fürchte niemand!« »Nein, ich komme nicht,« sagte sie, »dort unten wollen mir alle schaden.« »Marie, also du liebst mich nicht, du hast meiner vergessen, um Gottes Willen, komm herunter, geh' nicht in den Himmel!« »Und wirst du mich nicht töten?« fragte sie mich, herunter schwebend. »Nein, nein!« antwortete ich. Sie war so abgeschwächt, dass sie sich nur mit Mühe in der Luft halten konnte. Plötzlich schlug sie um und fiel herab und schlug vor meinen Füssen mit dem Kopfe zu Boden. Ich neigte mich zu ihr und sah, dass sie regungslos war und nicht mehr atmete. »Sie ist tot!« schrie ich erschrocken und erwachte. Was denkst du, Johannes, was kann dieser Traum bedeuten?«
»Du sagtest ja, dass du an solche Dinge nicht glaubst. Rietest du mir nicht vor ein paar Stunden, von Träumen nichts zu halten? Jetzt verlangst du meine Erklärung, um dann über mich zu lachen. Nein, Bruder, ich bin nicht so einfältig.«
»Was für ein sonderbarer Mensch du bist!« sagte ich, »ich scherzte doch nur mit dir.«
»Scherz bei seite! Zwischen einem Traume und der Wirklichkeit besteht ein unerklärlicher Zusammenhang. Die Träume gehen oft in Erfüllung, besonders wenn im Leben des Menschen eine bedeutende Veränderung vorgehen soll. Gebe Gott, dass das alles, was ich gesagt habe, unrichtig sei! Ich wünsche es dir von ganzem Herzen, aber eine innere Stimme sagt mir, dass deine Bekanntschaft mit diesem Mädchen zu einem Unglücke führt. Ja, Michael, befolge diesmal meinen guten Rat! Überlasse dieses Mädchen seinem eigenen Schicksale, menge dich nicht in ihre Angelegenheiten und brich deine Bekanntschaft mit ihr ab. Weder sie wird ohne dich, noch du ohne sie zu Grunde gehen. Bilde dir ein, du seiest um eine Viertelstunde früher oder später über die Brücke gegangen! Hättest du sie da gesehen? Und wenn du sie nicht gesehen hättest, wärest du ihr nicht nachgegangen und wenn du ihr nicht nachgegangen wärest, hättest du dich nicht in sie verliebt. Glaube mir, sie wird sich auch ohne dich aus ihrer Verlegenheit heraushelfen.«
Ich schwieg, denn da mir die Worte meines Freundes ziemlich überzeugend zu sein schienen, wusste ich auch gar nichts zu erwidern.
Das Talglicht war fast zu Ende gebrannt und es war nur noch ein winziges Stückchen übrig. Johannes stand daher auf, kleidete sich aus und legte sich zu Bette. Von meinen Augen war unterdessen der Schlaf völlig gewichen. Das Licht flackerte noch einmal auf und erlosch. »Gute Nacht!« sagte Johannes, drehte sich auf die andere Seite und laut schnarchend schlief er ein.
Vor meiner aufgeregten Phantasie erschienen nun Tausend verschiedenartige Bilder, deren jedes sonderbarer als das andere war. Es war das weder ein Traum noch eine Erscheinung, sondern etwas zwischen beiden. In der Dunkelheit und Stille, in der ich mich befand, machten die Weissagungen meines Freundes einen mächtigen Eindruck auf mich. Vor meinen Augen erschienen fortwährend Särge, Gräber, Trauerkleider, Begräbniskerzen und Totengerippe, die mit höllischem Händeklappern um mich herum tanzten. Ein kalter Schweiss rieselte mir über die Stirn, erschrocken bedeckte ich meinen Kopf mit dem Mantel, aber auch da hatte ich keine Ruhe und bald wurde mir unter dem Mantel das Atmen schwer. Ich schämte mich Johannes aufzuwecken und verbrachte in solchen Qualen die Stunden, die noch bis zum Morgen übrig waren.
Endlich begann allmälig das Tageslicht durch das Fenster einzudringen, es erklang melancholisches Glockengeläute. Was weiter geschah, weiss ich nicht mehr, wahrscheinlich schlief ich ein.
IV.
Als ich am nächsten Morgen ausging, beeilte ich mich vor allem auf der Post meinen Geldbrief in Empfang zu nehmen. Ich beeilte mich jedoch keineswegs so sehr, um Johannes oder mir selbst so schnell wie möglich aus der Not zu helfen, sondern vielmehr um ihr, der Fremden, die ich jedoch schon mit der ganzen Glut der ersten Liebe liebte, meine opferwillige Hingebung zu beweisen.
Nach Empfang des Geldes bestieg ich sofort eine Droschke und fuhr zu einem Viktualienhändler, wo ich verschiedene Esswaren und – ich muss schon meinen Leichtsinn eingestehen – auch eine Flasche Champagnerwein kaufte. Mit diesen Sachen fuhr ich zu Marie. Sie war traurig und ihr Gesicht noch blasser als gestern. Auf dem Tische bemerkte ich keinerlei Spuren eines Frühstücks und es war augenscheinlich, dass sie noch nichts genossen hatte. Den beiden Weibern schien mein Kommen nicht zu gefallen und sie brummten etwas vor sich hin, wagten es jedoch nicht ihrem Unwillen in lauten Worten Ausdruck zu geben. Meine gestrige Drohung musste gewirkt haben. »Gebt schnell die Theemaschine her!« rief ich mit gebieterischem Tone.
Zu unserem Ergötzen imponierten die Studenten durch ihre Uniform und ihren Degen und gemeine Soldaten salutierten sogar vor uns, was uns besonders schmeichelte, wenn wir mit unseren Liebchen spazieren gingen.
Als ich meine Esswaren ausgepackt hatte, bemerkte ich, dass Marie viel munterer geworden war. Es war leicht zu erkennen, dass sie hungerte und die mitgebrachten Sachen Appetit bei ihr erregten.
Ach, dieser Hunger! Gott behüte meinen schlimmsten Feind davor!
Während des Essens erheiterte sich allmälig unsere Stimmung, ja, wir begannen sogar zu scherzen und beim Glase Thee schienen die schmerzlichen Eindrücke des gestrigen Tages fast aus unserem Gedächtnisse zu schwinden.
Als wir so zusammen plaudernd dasassen, fielen plötzlich meine Blicke auf das Klavier.
»Marie!« sagte ich, »darf ich Sie bitten mir etwas vorzuspielen?«
Allerdings dachte ich dabei an ihre Trauer und wollte mich schon deswegen entschuldigen, unterliess es jedoch.
Marie setzte sich ohne ein Wort zu sagen ans Klavier und begann das allbekannte »Requiem« von Mozart zu spielen. Als sie zum vierten Teile gelangte, vergass ich mich und ich weiss wirklich nicht, ob es die herrliche Musik des genialen Maestro oder Mariens Spiel war, das mich so mächtig ergriff – ich weiss nur, dass ich vom Stuhle aufsprang, wie ein Wahnsinniger ihre Kniee umfasste und sie zu küssen begann.
Marie wehrte mir nicht, sie hob ruhig ihre Finger von den Tasten auf und als ich sie da anblickte, bemerkte ich zwar Thränen in ihren Augen, aber auch ein Wonnelächeln, welches um ihren Mund spielte.
»Marie!« sagte ich feierlich, »nicht wahr, du gehörst mir und ich dir? Nicht wahr, dieses Requiem war der letzte Ausdruck deiner Trauer und dann wirst du mit mir froh und glücklich sein?«
»O heiss wünsche ich, dass es so sein möchte, wie du sagst!« flüsterte sie seufzend.
»Was bedeutet dieses »Ich wünsche«? Liegt es nicht in deiner Macht zu wünschen und diesen Wunsch auszuführen? Hast du nicht die Freiheit, zu lieben, wen du willst?«
Anstatt mir zu antworten, wandte sich Marie von mir ab und fing an zu weinen. Ich dachte, dass ihr der Schmerz um den Verlust der geliebten Mutter diese Thränen aus den Augen presse, aber in der Folge sollte ich erfahren, dass ich mich geirrt hatte.
»Ach, Michael!« begann sie plötzlich, »du weisst nicht, wie sehr ich dich liebe und doch bin ich deiner Liebe nicht würdig. O mein Teurer, warum bin ich dir begegnet? . . . Du raubst mir das Leben!«
Ihre Worte verwirrten mich ganz und gar.
»Michael!« fuhr sie fort, »du siehst, wie sehr, wie heiss ich dich liebe, aber höre: Du musst mich rauben, entführen, weit, weit fort von hier!« Sie fiel mir an die Brust und küsste mich.
»Marie!« sagte ich, »du kannst an meiner Liebe nicht zweifeln, aber nie würde ich mich entschliessen, dich zu entführen. Ich will nicht eine Geliebte, aber eine rechtmässige, teure Gattin in dir haben. Ja, in ein paar Wochen sollst du die meinige werden! Bist du bereit, mit mir alle Missgunst und Prüfungen des Lebens zu ertragen?«
»O selbst im dunklen Gefängnisse mit dir zu leben wäre ein Glück für mich!«
Die seelischen Erschütterungen, welche in so kurzer Zeit auf einander gefolgt waren, erfüllten mich mit Schrecken und wirkten nachteilig auf meinen Körper. Ich brauchte Luft und Ruhe, wenn ich nicht erkranken wollte, besonders da mich von Zeit zu Zeit ein Frösteln überkam, als sei ein Fieber im Anzuge. Ich küsste unzählige Male Mariens Hand, verliess sie und ging nach Hause.
V.
Glücklicherweise erkrankte ich nicht, aber mein Herz war überwältigt und meine Liebe zu Marien entbrannte mit jedem Tage mehr. Täglich besuchte ich sie zwei oder drei Mal in ihrem Stübchen und verbrachte wonnige Stunden mit ihr, die allerdings nicht immer frei von erschütternder Betrübnis waren. Ja, jemehr in Mariens Herz die Liebe zu mir entbrannte, desto trauriger und besorgter schien sie zu werden, desto öfter entschlüpften ihren Lippen verzweiflungsvolle Worte, deren ernsthafte Bedeutung ich damals leider nicht verstand.
»O entführe mich von hier, mein Teurer! Fliehe mit mir weit, weit weg von hier! O, wenn du mich nicht raubst, werde ich nie die Deine werden! Was zögerst du? Was wartest du hier?« Diese und ähnliche Ausrufe und Fragen vernahm ich jeden Tag aus ihrem Munde und ein verzweiflungsvoller Trübsinn lag jedes Mal in ihren Blicken, wenn sie solche Worte an mich richtete. Leider, leider verstand ich damals diese Worte nicht und obgleich eine dunkle Ahnung mein Herz schwer plagte, legte ich ihrer verzweifelten Rede keine Bedeutung bei.
So vergingen mehrere Wochen, während welcher uns die Liebe immer enger an einander schloss, sich aber auch unsere beiderseitige Unruhe steigerte. Marie schien unsere Heirat beschleunigen zu wollen, mir aber war es unmöglich, ihren Wunsch so schnell zu erfüllen, denn meine Lage gestattete es mir nicht, und so verschob ich die Hochzeit bis zur Herbeischaffung der nötigsten Existenzmittel noch einige Wochen. Dieser Aufschub schien sie sehr zu beunruhigen, sie bat mich wieder, sie zu entführen und bestürmte mich von neuem mit ihren für mich unerklärlichen Bitten.
Eines Tages kehrte ich noch mehr als gewöhnlich aufgeregt und ermüdet nach Hause zurück, wo ich Johannes nicht antraf. Ich legte mich sofort zu Bette und nach wenigen Minuten schlief ich ein, aber mein Gott, was war das für ein Schlaf! Mehrere Male erwachte ich und schlief wieder ein und träumte von Dolchen, von Gift und von Blut. Als ich endlich am Morgen aufwachte, empfand ich nicht einmal das Bedürfnis, Thee zu trinken oder sonst etwas zu geniessen. Eine unsichtbare Kraft zog mich zu Marien hin. Ich kleidete mich schnell an, ergriff meinen Hut, bestieg die erste mir zu Gesicht kommende Droschke und befahl dem Kutscher, so eifrig wie möglich seinen Gaul anzutreiben. Obgleich das arme Tier aus allen Kräften dahintrabte, so lief es mir doch noch zu langsam, denn die Sekunden schienen mir an diesem Morgen Stunden zu sein. Endlich gelangte ich bei Mariens Wohnung an und lief schnell die Treppe hinauf. Im Vorzimmer hörte ich ein schnelles, verwirrtes Gespräch mehrerer Personen, unter denen sich auch zwei oder drei Polizeibeamte befanden. Ich war wie versteinert. Mir entgegen kam Mariens Wohnungswirtin und sagte:
»Die Deutsche lässt Ihnen ein langes Leben wünschen!«
Ihre Worte waren mir ganz und gar unverständlich.
»Was plapperst du?« rief ich halb rasend und wie in der Meinung, als sei das Alles noch eine Fortsetzung meiner Nachtträume.
»Ja, junger Herr!« bestätigte die andere Alte, »unsere Deutsche hat heute Nacht Gift genommen. Gott mache sie selig! Wir wussten gar nichts davon, aber als wir heute morgen die Theemaschine in ihr Zimmer trugen, sehen wir, dass sie noch unerwacht im Bette liegt, was früher niemals vorkam. Sie stand immer sehr früh auf, die Arme! Als wir uns dem Bette nähern und sie wecken wollen, was sahen wir da! Ihr Gesicht ist blass, die Augen halb geöffnet, der Körper erstarrt. Ich lief zum Hausknechte . . .«
Ich vermochte ihre Erzählung nicht weiter anzuhören, trat in das Zimmer ein und was sehe ich!
Ach, das Schreckliche solcher Bilder kann man wohl empfinden, aber nicht schildern!
Einer der Polizeibeamten übergab mir einen versiegelten an mich adressierten Brief.
Mit zitternden Händen öffnete ich denselben und las Folgendes:
»Verzeihe mir, geliebtester, teurer Michael! Verzeihe mir, dass dir die kurze Bekanntschaft mit mir nichts als Trauer und Sorge bereitet hat, aber höre mich an und du wirst sehen, wie ich dich liebe. Ja, um nicht einem Andern anzugehören, sterbe ich und zwar mit deinem Namen auf den Lippen! Meine Eltern verlobten mich schon vor ein paar Jahren mit dem einzigen Sohne ihres alten Freundes. Ich erkannte ihn als meinen Bräutigam an, ja, so lange ich dich nicht kannte, dachte ich sogar, dass ich ihn lieben könne. Gestern, bald nachdem du von mir weggegangen warst, kam er hier an und erinnerte mich an den Wunsch unserer Eltern und an meinen Schwur. Die ganze Zeit, die er bei mir weilte, schwieg ich und vermochte ihm nicht ein einziges Wort zu erwidern. Mein Wort zurückzunehmen, wäre ein Eidbruch und seinen Antrag anzunehmen übersteigt meine Kräfte. Lebe wohl, mein Einziger! Verwünsche mich nicht und wenn es dir möglich, gedenke mitunter der unglücklichen Marie! Nun, du erwachsenes, naives Kind, verstehst du jetzt, warum ich dich so stürmisch bat mich zu rauben, mich zu entführen? Ja, es war in deiner Macht mich zur Deinen zu machen, zu deiner Gattin, denn deine Braut konnte ich nicht länger sein, denn – ich war verlobt!«
1 Die Handlung unserer Erzählung spielt in Nachitschewan am Don, einer armenischen Kolonie, welche gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von Armeniern aus der Krim gegründet wurde.
2 Sarkis nennt hier seine Tante so.
3 Das Wort bedeutet in der Petersburger Spitzbubensprache »Striezen«.